Das Schweigen meiner Mutter
und jedesmal habe ich gedacht, was für ein Glück ist es doch, dass ich dich habe. Ich konnte es kaum erwarten, Fejge zu entkommen, zum Friedhof zu gehen und mich dann mit unserem Treffen zu trösten, mit dir ins Kino und zu Popcorn zu fliehen. Am Ende habe ich, trotz all ihrer Ankündigungen, die Geschichte über meine Mutter und über das, was zwischen ihr und Fejge war, nie erfahren. Was hätte sie auch schon erzählen können?« Dorits Augen waren leer, ihre Stimme klang erschöpft. »Dass meine Mutter nach dem Krieg in Polen geblieben ist? Dass sie einen deutschen Liebhaber hatte? Fejge hat es ausgekostet, sie hat ein Verbrechen daraus gemacht, sie hat meiner Mutter und uns allen das Leben zerstört.«
Ein deutscher Liebhaber? Plötzlich wurde mir alles klar: die Challa, die Itta im Hals steckengeblieben war, Fejges»Frau
hefkerdiker
« und der immer gedemütigt wirkende Schmulik.
»Sag, hast du davon etwas gewusst? Hat dir jemand was gesagt?« Dorit schaute mich forschend an.
»Nein«, sagte ich, »ehrlich, ich habe nichts gewusst. Mir hat man nie irgendetwas erzählt, mir hat man keine Geheimnisse verraten. Du weißt doch, meine Mutter hat sowieso fast immer geschwiegen. Sie hat ihre eigenen Geheimnisse verschwiegen und auch die Geheimnisse aller Nachbarn. Meine Mutter war ein Safe.«
»Deine Mutter war auch die Krankenschwester des Viertels, deine Mutter kannte die Geheimnisse von allen. Schließlich waren alle ihre Patienten, niemand wollte sich mit ihr anlegen.« Dorit lächelte. »Immer haben alle gemacht, was sie gesagt hat.«
Ich wollte fragen, was meine Mutter gesagt hatte und was die anderen gemacht hatten, aber Alon kam auf uns zu und schüttelte dabei so energisch den Kopf, als müsse er irgendetwas wegscheuchen. Der Lärm des Rasenmähers übertönte Dorits Stimme.
Sie war blass geworden.
Das liegt nicht an mir, es liegt an ihm, dachte ich, und ich suchte nach Worten, die die Verlegenheit auflösen könnten. Das Essen, das Aksam vor uns auf den Tisch gestellt hatte, eröffnete mir einen Ausweg: »Wir haben uns ganz schön hochgearbeitet seit damals, seit dem Sandwich und dem Saft im Sommercamp.«
»Das war der schrecklichste Sommer meines Lebens«, brach es aus Dorit heraus. Ihre Stimme wurde leiser. »Das hast du bestimmt nicht gewusst.«
»Doch, das war ein schrecklicher Sommer«, murmelte ichund dabei wackelte ich mit dem Kopf wie ein altes Klatschweib, ohne eigentlich zu wissen, warum.
»In jenem Sommer«, sagte Dorit nun wieder lauter, um das Rattern des Rasenmähers zu übertönen, »habe ich nach Brachas Horrorauftritt zu meiner Mutter gesagt, ich wisse jetzt, dass ihre ganze Familie im Krematorium verbrannt worden sei. Ich wollte noch andere Sachen erzählen, die ich von Bracha gehört hatte, aber meine Mutter wollte nichts hören. Sie stand auf, wie eine Autistin war sie plötzlich, entschwand ins Badezimmer und schloss sich ein.«
»Meine Mutter ist im Badezimmer.« Ich erinnerte mich, wie Dorit mit diesen Worten bei uns hereingeplatzt war. Ihr Schrei schoss mir durch den Kopf wie ein Wirbelsturm, mir wurde schwindelig.
»Nachdem die Finks abends die Tür aufgebrochen hatten, kam Dr. Wollmann mit deiner Mutter zu uns«, fuhr Dorit fort zu erzählen. Sie zog an ihren Fingern, die Gelenke knackten, dann trank sie einen Schluck Wasser, den sie so mühsam hinunterschluckte, als hätte sich das Wasser in ihrem Mund in Kieselsteine verwandelt.
»Sie holten sie aus dem Badezimmer und schleppten sie ins Schlafzimmer«, erzählte Dorit weiter. »Meine Mutter lag auf dem Bett, starrte die Lampe an und schwieg. Dr. Wollmann nannte das Katatonia. Katatonia, was für ein Wort! Jahrelang dachte ich, es sei eine Art Verwandte, du weißt schon, Bronia, Sonia, Katatonia. Niemand erklärte mir, was das war oder wer das war, diese Katatonia.«
Dorit erschauerte, ich auch.
»Meine Mutter ist im Badezimmer. Du erinnerst dich doch bestimmt noch, wie ich bei euch reingeplatzt und zur Toilette gerannt bin.«
Ameisen. Während des ganzen Sommers hatte sie Ameisen erforschen wollen.
Ich brachte kein Wort heraus. Mein Redevermögen war mir abhandengekommen.
»Ich gehe kurz zu Elektro-Koslowski«, hatte meine Mutter gesagt. Ich erinnerte mich, dass ihr Blick mir verraten hatte, dass sie log. Ich folgte ihr und stellte fest, dass sie eilig zu Dorits Wohnung lief.
»Ich bin’s«, sagte sie leise, bevor sie die Wohnungstür öffnete und eintrat. Als sie bemerkte, dass ich ihr gefolgt war,
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