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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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gereizt.
    Die beiden fingen an zu streiten und ich lief davon. Ich hoffte, endlich in den Straßen herumstreunen und ausspähen zu können, wie die Schabbatabende bei anderen Leuten aussahen, aber Dorit und Chajale kamen mir hinterher, ohne mit ihrem lauten Streit aufzuhören.
    An der Straßenecke hatte sich ihnen Ofer angeschlossen, dann tauchten auch Sabusch und Siva auf. Nach und nach stießen noch andere Kinder zu uns, die vor dem Schabbatessen zu Hause geflohen waren. Am Ende des Abends kamen alle zu mir nach Hause.
     
    »Hier gibt es kein Eisbein und keine
gefilte fisch
«, empfing meine Mutter die Gäste mit einem Lächeln und kümmerte sich um sie. Sie ermahnte Chajale und Dorit, sie sollten aufhören zu streiten, half Sabusch, ein Kreuzworträtsel zu lösen, flüsterte Siva zu, dass Itzik sowieso bald kommen würde, sie solle sich nicht ans Fenster stellen. »Alle werden sehen, dass du auf ihn wartest, er wird dich nicht wollen.«
    Anschließend bürstete sie Dorits Haare und flocht ihr mit geschickten Händen Zöpfe, wie ich sie nie haben würde. Ich schaute sehnsüchtig zu, wie ihre Finger sich mit Dorits glattem Haar beschäftigten.
    Als auch Itzik sich eingefunden hatte, tanzten alle in meinem Zimmer, Rock bei Licht und Blues im Dunkeln. Auch ich tanzte, ich tanzte widerwillig, ich tat, als würde mir dieser Abend Spaß machen, doch ich war böse auf meine Mutter, die für sich selbst eine Party mit meinen Freunden veranstaltete, ich war böse, dass es nur bei ihr am Schabbatabend kein Eisbein und keine
gefilte fisch
und auch keinen Vater gab, stattdessen aber Beruhigungstabletten und ein Brett und ein Messer, die auf der Küchenanrichte für ihren Einsatz bereitlagen.
    Ich war auch böse auf meine Freunde, denn nur am Schabbatabend und in Anwesenheit meiner Mutter stellte mir keiner irgendwelche Fragen, sogar Ofer Silberman schrie mir nicht nach, dass meine Mutter verrückt sei.
     
    »Schau nur, wie sehr sie dich mögen«, sagte meine Mutter aufgekratzt, als ihre Party zu Ende war.
    Ich konnte mich nicht beherrschen. »Warum habe ich keinen Vater?«
    »Komm, ich frisiere dich auch.« Sie tat, als hätte sie meine Frage nicht gehört. »Du siehst aus wie Shirley Temple.« Sie kämmte meine krausen Haare, kämpfte gegen die verfilzten Stellen und die Locken.
    »Warum habe ich keinen Vater?« Ich ließ nicht locker, bis ich spürte, wie sie die Kraft verlor, wie ihre Bewegungen mit dem Kamm immer schwächer wurden, wie die Nacht sie wieder niederzwang.
    Danach saß ich allein in meinem Zimmer, schloss die Augen und träumte von besseren Tagen, ohne Dorit, ohne Chajale, ohne meine Mutter, ohne dieses ganze Viertel. Ich träumte von einem anderen Ort, von einer anderen Familie, von einem Haus, in dem es einen Vater und eine Mutter gab, Brüder und Schwestern und einen Schabbatabend wie in den Geschichten.

    Lange saß ich neben der schweigenden Dorit und blätterte weiter in dem Fotoalbum. Schließlich brach sie ihr Schweigen. »In den letzten Jahren war mein Kontakt zu Fejge nicht mehr so eng«, sagte sie. Ihr Blick war, wie meiner, an einem Foto von Fejge hängen geblieben, auf dem sie lächelnd im Kreis ihrer Kindergartenkinder stand, all der Kinder, die nicht ihre eigenen waren.
    »Nach dem Tod meiner Mutter wollte Fejge nicht im Viertel bleiben. Sie beschloss umzuziehen und bestand hartnäckigdarauf, dass auch neben ihrer neuen Wohnung ein Kindergarten sein müsse. Ich versuchte zwar, sie davon abzubringen, aber sie gab mir unmissverständlich zu verstehen, ich hätte nicht das Recht, mich einzumischen. Sie sagte: ›Eine, die am Ende der Welt lebt, zwischen Arabern, so eine sagt mir nicht, wo ich wohnen soll.‹ Irgendwann hat sie schließlich eine Ruine am Stadtrand gefunden, kurz vor Jaffa.«
    »Eine Ruine?«
    »Ein heruntergekommenes Haus, natürlich direkt neben einem Kindergarten. ›Fröhliche jüdische Kinder machen mich glücklich‹, hat sie zu dem Makler gesagt, der daraufhin den Preis wegen der Nachbarschaft zum Kindergarten natürlich sofort erhöhte. Ich nehme an, dass sie ihr Leben sehr glücklich beendet hat.« Dorits Stimme klang wütend. »Fast den ganzen Tag lang hat sie aus dem Fenster geschaut, hinunter auf fröhliche jüdische Kinder.«
    Laute Stimmen vom Tor herüber brachten sie zum Schweigen. Ihr Sohn und ihre Tochter liefen an uns vorbei und verschwanden im Haus. Sie zeigten nicht das geringste Interesse an der Kindheitsfreundin ihrer Mutter. Am anderen Ende des Gartens

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