Das Schweigen meiner Mutter
tauchte Alon auf, und auch er reagierte nicht auf meine Anwesenheit. Er mähte den Rasen, und erst als Dorit ihn rief, kam er und drückte mir flüchtig die Hand. Sein Blick war in sich gekehrt, sein Lächeln gezwungen, sein Gesicht rot wie das eines Jungen in der Pubertät.
Danach kehrte er sofort zu seinem Rasenmäher zurück, mähte weiter den Rasen, der ganz offensichtlich erst vor kurzer Zeit gemäht worden war. Alles, was er hinterließ, war eine unerklärliche Verlegenheit und nackte Erde.
Ich schaute Dorit an und hoffte, in ihren Augen eine Antwort zu finden.
Dorit errötete. »Wir haben wunderbares Essen.« Sie würgte meine Neugier auf die mir nur allzu bekannte Art und Weise ab. Sie räusperte ihre Verlegenheit weg und legte eine reichhaltige Speisekarte vor mich auf den Tisch. Die Ablenkungsstrategien haben sich seit unserer Kindheit verfeinert, dachte ich.
Ich vertiefte mich in die Speisekarte, las sie Punkt für Punkt durch.
Melochia-Suppe
Taboulé
Kussa Machschi (gefüllte Zucchini)
Malfuf (Krautwickel)
Akubim
Kadaif
Baklava-Auswahl
Als ich den Blick von der Speisekarte hob, stand ein etwa fünfzigjähriger Mann mit einem sympathischen Gesicht und starken Händen neben Dorit.
»Das ist der Küchenchef, Aksam Suheil«, stellte Dorit den Mann vor. Sie war rot geworden.
Aksam lächelte herzlich und empfahl mir Akubim.
»A-ku-bim?«, wiederholte ich, jede Silbe betonend.
»Hier gibt es keine
kreplach
«, sagte er und entblößte beim Lächeln strahlendweiße Zähne. »Akubim – das sind die Könige der Disteln. Man brät sie mit Ei oder kocht sie mit Fleisch. Diese Pflanze erfreut den Magen.«
»Das ist genau das Richtige für sie, etwas Erfreuliches«, entschied Dorit.
»Aber was hast du mit Akubim zu tun?«, fragte ich sie, und zu Aksam sagte ich: »Ihre Mutter wäre hier verhungert.« Ichdachte auch an Fejge, die auf der Stelle der Schlag getroffen hätte.
»Du bist wie die anderen Freunde von Dorit, die hierher kommen.« Aksam lachte. »Wenn du es mir gestattest, wähle ich das Menü für dich aus.«
Natürlich gestatte ich es, bedeutete ich ihm mit einem Blick, aber natürlich.
»›Die anderen Freunde von Dorit‹ – wen hat er damit gemeint?«, erkundigte ich mich bei Dorit, als Aksam wieder in der Küche verschwunden war.
»So nennt er alle Tel Aviver«, antwortete sie ausweichend und kam wieder auf Fejge zu sprechen. »Als ich sie in ihrer Ruine besucht habe, hat sie versucht, mich zurechtzustutzen. ›Du weißt doch‹, hat sie zu mir gesagt, ›ich verstehe etwas von Pädagogik.‹ Und dann hat sie gefragt: ›Warum wohnst du nicht in der Stadt? Warum kauft dein Mann kein normales Auto? Warum fährt er einen Jeep wie ein Bandit? Warum hast du nicht einen Arzt geheiratet, einen Ingenieur, jemanden mit einem richtigen Beruf?‹ Nachdem sie ihr Sortiment von Fragen abgespult hatte, hat sie geseufzt und behauptet, sie hätte mir ihr ganzes deutsches Geld gegeben, um Alon an der Universität studieren zu lassen, und ich hätte es für Blödsinn ausgegeben. Eigentlich hätte sie nur meinetwegen für sich selbst überhaupt nichts kaufen können und sie wohne auch nur meinetwegen in einer Ruine. Dieser alte Geizknochen! Jeden Freitagabend hat Fejge Blumen mitgebracht, aber in einer Vase, und nach dem Schabbatessen hat sie sie dann wieder mitgenommen. Sie hat vergessen, dass ich keinen einzigen Cent von ihr bekommen habe.« Dorit brach der Schweiß aus. »In den letzten Jahren hat sie mir bei jedem Besuch angekündigt,es gebe da etwas, was sie mir erzählen müsse, meine Mutter sei ja jetzt tot, aber sie wisse ja, dass ich nur zu einem kurzen Besuch gekommen sei und ich es eilig habe, und es handle sich schließlich um eine alte Geschichte, etwas, was sechzig Jahre gewartet habe, könne auch noch ein weiteres Jahr warten. Aber auch wenn ich Zeit hatte, war bestimmt gerade Pause im Kindergarten und sie musste unbedingt sehen, wie es ihren geliebten Kindern ging.«
Dorit schwieg kurz, dann fuhr sie fort: »Ehrlich gesagt, sie hat auch Itzik verrückt gemacht, sie hat sich benommen, als wäre er ihr Sohn, sie hat ihm ihr ganzes Wiedergutmachungsgeld gegeben, sie hat ihn mit ihren Träumen nach Amerika geschickt, aber darüber haben wir nie gesprochen.«
Ich hörte schweigend zu, ich verstand, dass sie dabei war, eine alte Rechnung abzuschließen.
»In den letzten Jahren konnte ich sie nicht ertragen. Jedesmal, wenn ich zum Friedhof ging, habe ich sie vorher besucht,
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