Das Schweigen meiner Mutter
»Deine Mutter hat diese Leute hier nicht gemocht«, flüsterte sie. »Deine Mutter hat den Kibbuz nicht gemocht. Nachdem die Versammlung abgestimmt hatte, Jakob nicht als Mitglied zu akzeptieren, stellte sie sich mitten in den Speisesaal und brüllte wie eine Verrückte: Ihr macht hier eine Selektion wiedie Deutschen!« Ada hatte die Stimme erhoben. Alle Augenpaare im Zimmer richteten sich auf sie.
»Erinnert ihr euch?«, fragte sie die Alten, die sie anstarrten. Es blieb still.
»Sie war ein bisschen, wie soll ich sagen, nicht in Ordnung«, sagte Ada, nun wieder im Flüsterton.
»Wie nicht in Ordnung? War sie verrückt?« Die Frage rutschte einfach aus mir heraus.
»Nach dem Krieg waren alle irgendwie verrückt«, sagte Ada. »Sie war eine kluge Frau. Sie hat damals schon verstanden, dass ein Kibbuz nicht der richtige Ort für sie ist. Die Vollversammlung bestimmt, das Arbeitsverteilungskomitee bestimmt, und sie selbst bestimmt gar nichts. Also hat sie eines Tages ihren Kranken genommen und ist nach Tel Aviv gezogen. Schade, dass du nicht rechtzeitig gekommen bist«, sagte sie abschließend.
»Was heißt rechtzeitig?«
»Vor mindestens zwanzig Jahren«, sagte sie.
Ich schaute sie erstaunt an.
»Damals war Chajmke Ungar noch am Leben. Man sagt, Chajmke hat deine Mutter heiraten wollen.« Ada lächelte und die Brille rutschte über ihre lange Nase. »Aber nach der Versammlung mit der Selektion war deine Mutter böse auf Chajmke. Sie hat zu ihm gesagt, wenn dieser da nicht bleibt, dann geht sie. Und weißt du was? Sie hat tatsächlich Jakob genommen, ist gegangen und nie mehr in den Kibbuz zurückgekommen.«
»Gibt es hier noch jemanden, der die beiden gekannt hat?«, fragte ich, als mir klar wurde, dass weder von Ada Surewitsch noch von Chajmke Ungar, seligen Angedenkens, ein erlösendes Wort zu erwarten war.
»
Mejdele
, jetzt fällt es dir ein zu fragen? Sie haben den Kibbuz vor über fünfzig Jahren verlassen«, wies mich Ada zurecht. »Alle, die deinen Vater und deine Mutter gekannt haben, sind schon gestorben, und diejenigen, die noch am Leben sind, haben sie nicht wirklich gekannt.«
Mein Herz zog sich zusammen.
»Auch ich …, was denkst du, nun ja«, rechtfertigte sie sich, »ich habe deine Mutter ein paarmal gesehen, ich war damals schwanger, ich muss zugeben, dass sie mich sehr gut versorgt hat. Weißt du, nach dem Krieg war ich knochendürr, ich hatte Angst, mein Kind würde nicht in Ordnung sein. Deine Mutter hat mir Ruhe verordnet, sie hat dafür gesorgt, dass ich eine Arbeit beim Zusammenlegen der Wäsche bekam. Als mein Bauch immer dicker wurde, legte ich die Babystrümpfchen darauf und rollte ein Paar nach dem anderen zusammen.« Sie lächelte. »Letztlich ist sie weggegangen, um den Leuten im Kibbuz zu zeigen, dass man hier, im Land der Juden, keine Selektionen macht, deshalb ist sie weggegangen, und das war’s.«
Das Licht im Aufenthaltsraum war kalt, es flimmerte mir vor den Augen. Mir fiel ein, dass Dorit versprochen hatte, mir eine Massage zu organisieren.
»Dorit hat gewusst, was sie mir versprechen musste«, flüsterte ich Aksam zu. Ich wollte möglichst schnell hier weg.
»Warten Sie einen Moment«, bat die Sozialarbeiterin. »Bevor Sie gekommen sind, habe ich unseren Archivar gebeten, nach Unterlagen über Ihre Eltern zu suchen. Ich dachte, vielleicht ist ja trotzdem noch etwas da.«
Sie nahm ein vergilbtes Blatt aus einem Ordner mit der Jahreszahl 1952.
Antrag auf Mitgliedschaft im Kibbuz
Antragsteller: Jakob Roża
Geburtsjahr: 1918
Geburtsort: Stoczek, Polen
Sprachen: Polnisch, Jiddisch und Hebräisch
Familienstand: ledig
Einstimmiges Ergebnis der Abstimmung am 11. 10. 1952:
Nicht angenommen
Ich tastete über die Buchstaben wie ein Blinder über Brailleschrift, ich tastete auch über das Datum. Meine Fingerspitzen brannten vor Schmerz, wie bei einem Stromschlag floss der Schmerz von meinen Fingerspitzen in den Kopf: »12. 10. 1952. Hiermit bestätigen wir, dass das Paar Jakob Roża und Helena Hochdorf bei uns zur Eheschließung registriert wurde …«
Am Abend hatte die Versammlung stattgefunden, am nächsten Morgen hatten sie den Kibbuz verlassen, am nächsten Mittag beantragten sie die Eheschließung beim Rabbinat von Givatajim und am nächsten Abend waren sie verheiratet.
Als Aksam und ich den Kibbuz verließen, dachte ich: Auf diesem Sandweg, auf dem ich jetzt gehe, sind auch Helena und Jakob gegangen. Sie ging voraus, einen
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