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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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kleinen Koffer in der Hand, er folgte ihr. Ihre Absätze schlugen zornig auf den Weg, er schleppte sich hinter ihr her, erschöpft vom Leben, schaute ab und an zurück. An der Bushaltestelle, an der ich in diesem Moment vorbeikam, waren beide in den Bus nach Haifa gestiegen und von dort nach Tel Aviv gefahren.
    »Träumst du?« Aksam zog mich vom Straßenrand auf den Gehweg. Ein Traktor war vor mir aufgetaucht. Ich hatte ihn nicht bemerkt.
    »Natürlich träume ich«, sagte ich und kehrte sofort wieder zurück zu den Gedankengespinsten, bei denen ich Trost suchte.

    Mittags waren die beiden im Viertel angekommen. Itta hatte sie aufgeregt erwartet. Helena stand vor ihr, keine Umarmung, kein Kuss, kein rührendes Wiedersehen. Sie hatten sich vor Jahren getroffen, im Lager, zu Beginn des Kriegs. Dann hatten sie sich aus den Augen verloren.
    Helena zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche, Itta eines aus ihrer Schürzentasche, und beide wischten sich über die Augen, die schon so lange keine Tränen mehr hatten.
    Jakob streckte die knochige Hand aus und stellte sich vor.
    Dann eilten sie zu dem Haus, in dem damals die Zweigstelle des Rabbinats war, dort standen sie vor dem Rabbiner.
    »Und wo sind die Zeugen?«, fragte er.
    Erst da bemerkten sie, dass Itta nicht mehr bei ihnen war.
    Mein Vater senkte den Kopf, meine Mutter schaute geradeaus.
    »Dort«, antwortete sie dem Rabbiner.
    »Wo?« Er schaute sich um.
    »Bei Hitler«, zischte sie.
    »Aber man braucht Zeugen«, beharrte der Rabbiner.
    »Dann braucht man sie eben«, sagte sie mit starrem Blick.
    Die Tür zum Büro ging auf. Zwei Männer traten ein und sagten, Itta habe sie geschickt. »Zeugen: Schmuel Rosenfeld, Wladek Friman«, so stand es unten auf der Urkunde.
    Danach kam auch Itta, begleitet von ihrer Schwester Fejge.Zusammen mit ihnen gingen sie zu dem Haus, das ihr Zuhause werden sollte.
    »Das ist euer Zimmer«, sagte Itta.
    Sie betrachteten das Zimmer mit den schimmligen Wänden und schwiegen.
    »Jedenfalls besser als in Theresienstadt«, sagte Itta tröstend.
    »Wir kommen am Abend, um ein Glas auf euch zu trinken«, sagte Fejge, um sie aufzumuntern.
    »Alle werden da sein«, versprach Itta.
    »Nur ich nicht«, erwiderte meine Mutter.

    Als wir bei den Gästezimmern ankamen, stand Dorit in der Küche und hackte Kräuter auf dem breiten Holztisch.
    Der Duft von Minze stieg mir in die Nase, von Eisenkraut, Lavendel und Rosmarin.
    »Nun, wie war’s?«, fragte Dorit und erkundigte sich nach Einzelheiten des Treffens.
    Ich brachte kein Wort heraus.
    Dorit legte das Messer hin und umarmte mich. »Vielleicht hätte ich dich davon abhalten sollen«, meinte sie. »Aber nach unserem Gespräch im Café hatte ich das Gefühl, du wolltest wirklich etwas über deinen Vater und deine Mutter erfahren.«
    Ich schwieg.
    Dorit blickte zur Tür hinüber, bedeutete mir, dass ich erwartet wurde, und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
    In der Tür stand ein junger Mann mit dem Körper eines Tänzers der Batsheva Dance Company und forderte mich mit Wisperstimme auf, ihm in den Massageraum zu folgen.
    Ich wurde mit Lavendelcreme und aromatischem Öl, das nach Pinien duftete, eingerieben, dann wurden meine Schultern mit geübten Händen massiert. Ich schloss die Augen.

    Irgendwo dort im Kibbuz hatte es eine Baracke gegeben, in der ein Medikamentenschrank stand, mit Spritzen und Impfserum. An einem Tag im Herbst hatte Helena dort am Fenster gestanden, blond, schmal, mit scharfen Zügen und durchdringendem Blick.
    Am frühen Morgen kam ein Mann vorbei, mager, groß und müde. Er schenkte ihr ein kleines Lächeln, das Atmen fiel ihm schwer.
    Helena lud ihn ein, einzutreten, sie gab ihm Sirup.
    Er konnte wieder atmen, er lächelte erleichtert und ging zur Erntearbeit.
    Sie folgte ihm mit dem Blick, bis er auf dem Weg verschwand, der zur Orangenplantage führte.
    Helena blieb am Fenster stehen und sah ihn noch vor sich und mit ihm ein anderes Land. Sie atmete den kalten, weißen Geruch von Schnee ein, und ihr wurde warm ums Herz.
    »Warum warst du nicht im Speisesaal?«, fragte der Mann, der auch am nächsten Tag wieder auftauchte.
    »Sie ist eine ausgezeichnete Arbeiterin, sogar für Essen vergeudet sie keine Zeit«, antwortete an ihrer Stelle Chajmke Ungar, der Kibbuzsekretär, der seinen Arm um ihre Hüfte gelegt hatte und mit dieser Umarmung demonstrierte, dass sie ihm gehörte.
    Der Mann lächelte verlegen.
    Er ging, sie schwieg.
    Gegen Abend erschien er wieder in der

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