Das Schweigen meiner Mutter
verrückt!«, zischte ich.
»Voll und ganz«, bestätigte mein neuer Freund leise.
Einen Monat später heirateten wir.
»Seit dem ersten Zusammenbruch ist Adi hier und steht Alon, Dorit und den Kindern zur Seite«, erzählte Chajale weiter.»Seit fünfundzwanzig Jahren immer wieder Anfälle, Krankenhausaufenthalte. Seitdem bin auch ich hier, seit fünfundzwanzig Jahren. Jedes Wochenende, jeden Feiertag.«
»Gott hat einen großen Schatz an Plagen und er verteilt sie großzügig«, hallte die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf wider.
»Was ist also wirklich Dorits Geschichte?« Ich wollte es verstehen.
»Heute ist es eine Liebesgeschichte.« Chajale lächelte. »Sie liebt Aksam und Aksam liebt sie.«
Chajale wollte das weiter ausführen, doch genau in diesem Moment tauchte Aksam auf und stellte eine Flasche Rotwein und zwei Gläser auf den Tisch.
»Holla, Jahrgang 2003«, rief Chajale begeistert. »Komm, wir stoßen an.« Sie goss den Cabernet in die Gläser.
Aksam lächelte und ging zurück in die Küche.
»Ist Aksam verheiratet? Hat er eine Familie?«, wollte ich wissen.
»Es ist so, sie haben früher in derselben Abteilung im Krankenhaus gearbeitet«, erklärte mir Chajale. »Aber als Alon krank wurde, erbot sich Aksam, Dorit zu helfen. Im letzten Jahr hat er seine Stelle im Krankenhaus aufgegeben und arbeitet jetzt nur hier, für die Gästezimmer. Heute ist Aksam der eigentliche Manager des Ganzen, aber darüber wird nicht gesprochen, hier nennt man ihn Küchenchef.« Sie kicherte.
»Ist er nun verheiratet oder nicht? Hat er eine Familie?«, wiederholte ich meine Frage.
»Selbstverständlich ist er verheiratet, selbstverständlich hat er eine Familie«, antwortete sie und fragte: »Was ist es, was du nicht verstehst?«
Ich schaute prüfend zu Aksam hinüber, der jetzt mit DoritsSohn auf der Terrasse vor der Küche saß. Sie aßen und unterhielten sich vertraut miteinander. Wie Vater und Sohn, schoss es mir durch den Kopf.
»Nun, was sagst du, kommen sie dir nicht wie eine Familie vor?«, fragte Chajale, die wie ich die beiden beobachtete. »Ich kenne diese Kinder seit ihrer Geburt. Dorits Sohn ist fast dreißig, wohnt aber immer noch hier. Er bringt es nicht übers Herz, Dorit mit alldem allein zu lassen. Ihre Tochter studiert in Tel Chaj und kommt jeden Tag nach Hause zurück. Sie ist ganz wild darauf, mit ihrem Freund zusammenzuziehen, aber sie schafft es nicht, ihren Vater und ihre Mutter zu verlassen.« Chajale rückte näher zu mir, bis sich unsere Stühle berührten. »Dorit muss ihren Kindern klarmachen, dass sie die Option haben, hier wegzugehen, sonst wächst hier noch die dritte Generation heran, verstehst du?«
Ich schwieg.
»Ich bin froh, dass du hier bist.« Chajale lächelte mich an und trank ihr Glas leer. »Schließlich bist du ihre beste Freundin.« Sie brachte mich in Verlegenheit. »Und wir werden für Dorit etwas tun«, deutete sie Zukunftspläne an.
In diesem Moment tauchte der Masseur auf.
»Schätzchen, noch fünf Minuten«, säuselte Chajale mit Nord-Tel Aviver Grandezza.
Höchste Zeit zu gehen, dachte ich. Ich stand auf.
»Erst wenn ihr Glas leer ist«, rief Chajale dem Masseur zu, deutete auf mein Weinglas und schlug ihn damit aus dem Feld.
»Aber ich trinke nicht, ich muss noch fahren«, sagte ich und machte mich zum Aufbruch bereit.
»Was ist mit dir? Warum hast du es so eilig?« Sie klang ärgerlich. »Und wo warst du überhaupt in all den Jahren?« Sieversetzte mir einen leichten Klaps, und wieder hatte ich das Gefühl, fliehen zu müssen, wie in den Tagen meiner Kindheit, als ich mich so sehr danach sehnte, an einen anderen Ort zu entkommen, jemand aus einer anderen Geschichte zu sein. Meine eigene Geschichte hatte ich, obwohl ich sie nicht kannte, damals nicht gewollt. Sie hielt mich an der Hand fest, ich bemühte mich, gelassen zu wirken, meine Gefühle zu verbergen. Ich blieb stehen und heftete meinen Blick auf Chajales glitzernde Paillettentasche. Sie war umgefallen, ihr Inhalt war herausgerutscht, genau wie die Worte aus Chajales Mund, alles lag verstreut auf dem Rasen. Mein kundiger Blick entdeckte eine Tablettenschachtel. Prozac. Ich lächelte in mich hinein. Klavier, Ballett und Antidepressiva. Ich drückte meine Tasche fest an mich, als Zeichen, dass ich trotzdem gehen wollte, aber ein Dackel, der einem Schmetterling hinterherlief, ließ meine Entschlossenheit bröckeln.
»Schau ihn an, er sieht genau aus wie Bingo«, sagte ich und betrachtete ihn
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