Das Schweigen meiner Mutter
gerührt. Als ich »Bingo!« rief, kam der Hund auf mich zugelaufen.
»Wieso wie Bingo? Das ist Bingo. Dorit hat ihn Bingo genannt.« Chajale lächelte und ließ meine Hand los.
»Bingo!«, rief ich noch einmal laut. Er wedelte mit dem Schwanz und leckte mir die Füße. Ich streichelte ihn. Meine Hände glitten über sein weiches Fell, ich hörte wieder das vertraute Hecheln und sah diesen hingebungsvollen Blick, den nur Hunde haben.
Ich erinnerte mich an den Tag, an dem ich mit meinem verdreckten Straßenköter Schmulik nach Hause gekommen war.Meine Mutter hatte ihn in unserer Badewanne gewaschen. Der Gestank hatte den ganzen Raum erfüllt.
»Warum wäschst du ihn nicht draußen?«, fragte ich sie.
»Weil man gerade einem solchen Hund das Gefühl geben muss, ein Zuhause zu haben«, antwortete sie.
Den Namen Schmulik hatte ich damals noch nicht einmal meiner Mutter verraten, laut nannte ich ihn Bingo. Den Namen Schmulik benutzte ich nur heimlich und nur dann, wenn Dorit mich geärgert hatte. Bingo-Schmulik wohnte bei uns im Badezimmer. Meine Mutter brachte ihm einen Napf, ein Kissen und eine Decke. Neunzehn Jahre lang war er bei uns.
Ich setzte mich wieder und streichelte über Bingos Fell.
»Hast du eigentlich einen Hund?«, fragte Chajale interessiert.
»Nein, allenfalls Kakerlaken.« Ich lachte. »Und was ist mit deinem Klavier? Spielst du noch? Und tanzt du noch?«
»Ich hasse Klavierspielen und ich hasse Tanzen.«
Ich war platt.
»Nur wenn Freunde zu mir kamen, habe ich getanzt und gespielt«, sagte Chajale und verkündete: »Ich bin wie du.«
»Wieso wie ich? Redet jetzt die Klavierspielerin oder die Tänzerin?« Ich lachte, aber ich verstand nicht, was sie meinte.
»Ein Angsthase«, sagte sie. »Du hattest Angst, man könnte dich fragen, wo dein Vater ist, deshalb hast du dir Geschichten ausgedacht, und ich hatte Angst, man könnte mich fragen, warum ich zwei Väter habe, deshalb habe ich versucht, allemit meinen künstlerischen Talenten abzulenken.« Sie fing an zu summen, stand auf und drehte eine Pirouette auf ihrem gesunden Bein. Als sie sich wieder auf den Stuhl fallen ließ, lächelte sie verlegen und trank einen großen Schluck aus meinem Weinglas.
»Jeden Tag habe ich gebetet, dass du nicht zu mir nach Hause kommst.« Ihre Stimme klang trocken, trotz des zweiten Glases Wein. »Mein Geheimnis war bei uns zu Hause, im Schlafzimmer. Oder hast du jemals bei Juden aus Polen zu Hause drei Betten im Schlafzimmer gesehen?« Sie wollte lachen, aber es gelang ihr nicht. »Du bist zu uns gekommen, hast dich in der Wohnung umgeschaut und die ganze Zeit über Brachas Shoah geredet. Du hast gar nicht kapiert, dass ich nur deinetwegen gespielt und getanzt habe, du hast überhaupt nichts verstanden. Aber ich war nicht die Einzige. Alle hatten Angst vor dir, frag Dorit. Immer hast du dich neugierig umgeschaut, du hast alles gesehen und dauernd Fragen gestellt. Ich habe gebetet, ich habe Gott angefleht, dass du sterben mögest.« Chajale hielt inne und entschuldigte sich dafür, einen solchen Wunsch gehabt zu haben.
»Ich habe gebetet, dass deine Mutter sterben möge«, sagte ich, um sie zu beruhigen. »Ich habe dir einen deiner Väter wegnehmen wollen.«
»Oh, wenn du es doch nur geschafft hättest, was für ein gutes Leben hätten wir beide haben können.« Sie lachte befreit.
»Einen Vater für dich und einen für mich«, griff ich spielerisch die Idee auf.
»Glaub mir, ich hätte dich sogar wählen lassen, welchen du willst«, verkündete sie großzügig.
»Weißt du vielleicht etwas über meinen Vater?« Plötzlichkonnte ich die Frage nicht mehr zurückhalten, sie platzte einfach aus mir heraus.
»Dass er tot ist«, antwortete sie, ohne zu zögern.
»Auch das ist eine Nachricht«, sagte ich und erstarrte, als hörte ich das jetzt zum ersten Mal.
»Was ist mit dir?« Chajale schaute mich verwundert an. »Ich erinnere mich, dass meine Mutter gesagt hat, dein Vater sei gestorben, aber das sei ein Geheimnis, ich dürfe es dir nicht erzählen. Dein Vater war
top secret
. Und die höchste Geheimhaltungsstufe galt gerade dir gegenüber.« Sie lachte schallend. »Deine Mutter hatte strenge Geheimhaltung verfügt, und alle im Viertel haben ihr gehorcht. Alle, außer Ofer. Alle haben getan, was deine Mutter wollte. Auch ich habe damals schon gewusst, dass man sich nicht mit ihr anlegen durfte, damit sie Jissachar weiter behandelte.« Ein Geheimnis im Geheimnis brach aus ihr heraus, sie sprach weiter,
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