Das Schweigen meiner Mutter
die Huberman-Straße 6 gefahren. Meine Mutter hat die Wohnung geputzt und deine Mutter hat ihn hingebungsvoll gepflegt, bis zu seinem Tod.«
Von dieser Geschichte hatte ich nichts gewusst.
Jahrelang hatte die angeschlagene Porzellanfigur einer Tänzerin auf dem Regal in meinem Zimmer gestanden und ich durfte sie nicht anrühren. Eines Tages, als ich aus dem Kibbuz zu Besuch kam, fiel mir auf, dass sie verschwunden war.
»Wo ist sie?«, fragte ich meine Mutter.
»Dort, wo sie hingehört«, antwortete sie.
»Also im Müll«, sagte ich.
Meine Mutter schwieg.
Plötzlich drang eine bekannte Melodie zu uns in den Garten.
»Chopin«, sagte Chajale erstaunt. »Das Konzert Nr. 1 für Klavier und Orchester. Weißt du eigentlich, dass man mich im Konservatorium am Ende nicht genommen hat? Aber Alon hätten sie bestimmt genommen, er spielt wie ein professioneller Pianist.«
Gemeinsam lauschten wir der Musik, die Chajale früher gespielt und zu der sie getanzt hatte.
Am Himmel glitzerten die ersten Sterne. Die Musik, die immer lauter wurde, drang in mein Herz, durchdrang die stille Stunde des Zwielichts.
Ich dachte an meine Mutter, die Frau, die ich nicht wirklich gekannt hatte, die in sich selbst gelebt hatte, und ich, ihre Tochter, war nicht da, nicht bei ihr und nicht an ihrer Seite.
Wie weit waren wir doch voneinander entfernt, sie und ich.
Wie weit entfernt waren ihre Vergangenheit und die Gegenwart, die ihr zuteil geworden war.
Ich schloss die Augen.
Der Arzt hatte mich angerufen und mir mitgeteilt, dass ihr Zustand sich verschlechtert hatte, noch ein Tag, vielleicht zwei, hatte er gesagt. Ich erschien zu meinem fast letzten Besuch im Krankenhaus, ich und meine Fragen.
Meine Mutter hatte dagesessen, in sich versunken, besiegt, im Rollstuhl.
Ich saß bei ihr, zerquält, unglücklich.
»Also, Mama, wo ist mein Vater?«, murmelte ich verzweifelt, ich setzte unsere alte Zeremonie fort: »Mama, hattest du noch andere Kinder?«
Sie hob den Blick zu mir, sie war nur noch Haut und Knochen, ihre Wangen waren eingefallen, ihre Lippen zusammengepresst.
»Was ich wollte, dass du weißt, weißt du«, stieß sie mit klarer Stimme aus.
Ich schwieg. Auch meine Mutter schwieg.
Zwei Tage später war sie tot.
Die Musik wurde lauter. Ich wünschte, sie würde nie aufhören, ich wünschte, sie würde all meine Gedanken beherrschen, würde mein Gehirn mit ihren Klängen füllen.
Aksam tauchte wieder auf, nahm die leeren Weingläser, stellte Tee und Tachini-Kekse auf den Tisch und teilte uns mit, Dorit sei zu einem Notfall in die Klinik gerufen worden.
»Es ist schon spät«, sagte ich laut. Ich wollte aufbrechen.
»Dorit hat mich gebeten, dir auszurichten, dass das Zimmer bereitsteht. Sie wird morgen rechtzeitig zum Frühstück zurückkommen«, sagte Aksam.
»Bitte, fahre nicht«, drängte Chajale. »Die Straßen hier sind nicht besonders gut, es ist gefährlich, nachts zu fahren. Bleib bitte hier. Wir können morgen zusammen frühstücken und dann losfahren. Wie oft haben wir schon die Gelegenheit, uns zu sehen?«
Ich sah ihren bittenden Blick und sah wieder das Mädchen von damals vor mir, blasshäutig, ihren blonden Zopf zu einer Krone hochgesteckt, hatte sie mich mit Tanz oder Klavierspiel empfangen und mit Hilfe von Ballettschuhen, Tüll und Klavierspiel ihre Scham und ihre Geheimnisse verborgen.
Ich lächelte.
»Hier, sag deinem Mann Bescheid.« Sie hielt mir ihr Mobiltelefon hin.
»Er ist noch auf einer Geschäftsreise im Ausland«, antwortete ich.
»Das ist ein Zeichen, dass du hierbleiben sollst. Und die Kinder?«
»Sie wohnen schon nicht mehr zu Hause.«
»Noch ein Zeichen«, sagte sie begeistert. »Du bleibst also.« Sie umarmte mich zärtlich, bevor sie im Massageraum verschwand.
Ich blieb im Garten. Ich genoss den Tee und die Tachini-Kekse. Ein süßer Blütenduft erfüllte die Luft. Es war eine samtene Stunde, die idyllische Stimmung hüllte mich ein. Ich sank tiefer in den Liegestuhl und schaute hinauf zum Himmel, zu den vielen Sternen, die sich allmählich zeigten. Meine Gedanken rieselten wie in einer Sanduhr, langsam, ein Körnchen nach dem anderen, manche sanft und angenehm, andere voller Schmerz.
Chajale kam von der Massage zurück und setzte sich neben mich.
»Was machst du eigentlich hier?«, fiel es ihr plötzlich ein zu fragen.
»Ich suche Verwandte«, antwortete ich.
Sie umarmte mich. »Und? Hast du welche gefunden?«
Die Musik wurde wieder lauter.
»Hörst du«,
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