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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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die Speisekammer ein, um die Pflanzenbüschel zu besichtigen, die dort zum Trocknen hingen, um zu sehen, wie sie den Farbton wechselten, wie ein Kraut zu einem Medikament wurde.
    Plötzlich waren Kräuter zum Gesprächsthema geworden. Pfefferminze und Rosmarin, Eisenkraut und Echter Salbei kamen zu Ehren.
    Und kein Wort über Alon.
     
    Chajale zerrieb nervös ein getrocknetes Pfefferminzblatt zwischen den Fingern und fing stockend an zu sprechen. »Früher, als wir Kinder waren, war die Lüge vielleicht schöner als die Wirklichkeit.« Sie schaute mich an, dann wandte sie sich an Dorit. »Aber es reicht. Wir sehen doch, was mit dir wirklich los ist. Und wir sind sicher, dass du dein Leben ändern kannst.« Sie spricht auch in meinem Namen, dachte ich. »Wir wissen, dass du es schwer hast«, fuhr sie fort, »dass du es vielleicht sogar sehr schwer hast.« Das Pfefferminzblatt zerbröselte, die Stückchen rieselten auf ihre Kleidung.
    »Mir geht es nicht so schlecht, wie du glaubst«, erwiderte Dorit. »Es ist vielleicht schwer, aber nicht schlecht. Letztlichhabe ich Glück. Wie meine Mutter gesagt hätte: In Theresienstadt war es schlimmer.«
    Sie versuchte ein Lächeln.
    Chajale trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, suchte nach den richtigen Worten. »Schau«, sagte sie, »schon seit Jahren sage ich dir, dass du genug getan hast, dass du jetzt dein eigenes Leben leben musst.« Sie sprach mit zitternder Stimme, betonte aber jedes Wort.
    »Du meinst, dass ich Alon in eine Anstalt abschieben soll?« Dorit war blass geworden. »Was willst du eigentlich von mir?«, fragte sie mit müder Stimme.
    Chajale klopfte die Pfefferminzstückchen von ihren Kleidern, ordnete ihr Haar und richtete sich auf. »Schau, deine Kinder sind schon erwachsen, sie müssen das Haus verlassen, sie müssen sich von dieser Last befreien. Und du hast Aksam, du solltest auf ihn achten, damit er nicht am Ende noch weggeht und dich verlässt.«
    Dorits Augen weiteten sich entsetzt, als traute sie ihren Ohren nicht. »Die Kinder werden weggehen«, sagte sie wütend, »Aksam wird weggehen, aber ich lasse nicht zu, dass Alon lebendig in einer Irrenanstalt begraben wird, ich sperre ihn nicht in eine Anstalt, ich vertreibe ihn nicht aus seinem Zuhause. Das haben die Deutschen getan!« Der letzte Satz war ein tiefer Aufschrei. »Sie haben ihre Kranken weggebracht!« Sie schnappte nach Luft. »Sie haben Selektionen gemacht.« Sie zitterte am ganzen Körper.
    Mir brach wieder der Schweiß aus. Wie Dum-Dum-Geschosse waren meine Gedanken: Meine Mutter hatte meinen Vater in ein Sanatorium geschickt, sie hatte ihn in eine Anstalt abgeschoben, sie hatte sich von ihm befreit, sie hatte eine Selektion abgehalten.
    Ich lehnte mich an die Wand, an der getrocknete Kräuter hingen. Meine Augen brannten, meine Haut juckte, ich hatte das Gefühl, als würde meine Luftröhre zusammengepresst. Das ist der passende Moment für einen richtigen Asthmaanfall, dachte ich, und ausgerechnet heute habe ich meinen Inhalator nicht dabei.
    Mir wurde schwindlig.
    Anstalt, Deutsche, Selektion.
    Würden unsere Wunden denn nie heilen?
    Ich schaffte es nicht, meine Gedanken zu ordnen.
     
    Dorit und Chajale standen einander gegenüber und funkelten sich wütend an, genau wie früher. Bilder aus meiner Kindheit stiegen zwischen Pfefferminze und Salbei auf. In meinem Kopf drehte es sich wie in einem Mixer auf höchster Geschwindigkeit, und wie früher umfing mich der Geruch von Medikamenten. Der Geruch von Pflastern und Tabletten, Sirup und Salben, Vaselin und Antiseptikum. Plötzlich verstand ich, warum ich so sorgfältig die Gegenwart von der Vergangenheit getrennt hatte, wie man zum Backen das Eigelb vom Eiweiß trennt.
    Chajale war die erste, die sich wieder fing. »Stimmt, die Deutschen haben ihre Kranken zum Tod verurteilt«, sagte sie. »Aber es gibt einen Unterschied   – Alon, er würde nicht umgebracht werden. Du kannst das Selektion nennen, damit machst du mir keine Angst, auch die Juden haben selektiert. Die Mütter haben die Starken ausgesucht, sie haben die großen, gesunden Kinder aus dem Zug geworfen und die kleinen, schwachen mit ins Feuer genommen. Versteh mich richtig, ich versuche doch nur, deinen Kindern zu helfen. Oder kommt es dir normal vor, wenn ein dreißigjähriger Mann noch immerbei seiner Mutter lebt? Wenn eine junge Frau von siebenundzwanzig Angst hat, euch zu verlassen und mit ihrem Freund zusammenzuziehen?«
    Dorit hatte völlig dichtgemacht, sie

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