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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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hörte gar nicht zu.
    Ich kannte den erloschenen Blick in ihren Augen, es war der gleiche Blick, mit dem meine Mutter mir gezeigt hatte: Ich bin schon nicht mehr hier.
    Vielleicht war das der richtige Moment, Erinnerungen wegzuschließen, das Schweigen zu achten.
    »Und du, warum schweigst du?«, fuhr Chajale mich wütend an. »Sag doch was!«
    Ich wollte auch ihr raten zu schweigen. Ich wollte ihr sagen, dass ich im Prinzip nur für Kino und Popcorn zuständig war.
    Aber meine Stimme gehorchte mir nicht.
    »Was willst du von ihr?« Wie immer versuchte mich Dorit zu schützen.
    Das Klingeln von Chajales Mobiltelefon rettete uns drei aus diesem Gefecht um Reden oder Schweigen.
    »Adi lässt ausrichten, dass alles in Ordnung ist, er ist bei Alon in der Klinik«, informierte Chajale Dorit.
    Dorit wurde rot.
    Für einen Moment kehrte Ruhe in die Speisekammer ein und auch in mich.
    »Ich übernehme morgen die Frühschicht«, versprach Chajale von sich aus.
    »Wenn es dir keine Umstände macht, dann nimm Alonusch das Waschzeug und das große Handtuch mit, das er mag«, bat Dorit mit müder Stimme.
    »Adi hat in der Nacht schon sein Waschzeug, das Handtuch, sein Mobiltelefon und das Ladegerät mitgenommen. Nachdem die Polizisten Alon gefunden hatten, hat Adi AlonsMarschgepäck fürs Krankenhaus eingepackt. Ich fahre heute nach Tel Aviv, ich muss mich ein bisschen ausrüsten, aber morgen früh bin ich hier.« Chajales Tonfall hatte sich verändert, auch ihr Blick und ihre Haltung. »Soll ich etwas für dich einkaufen?«, erkundigte sie sich bei Dorit. »Etwas Gutes zu essen?«
    »Wenn es dir nichts ausmacht, bring mir was von dieser Bäckerei mit, du weißt schon, ein paar Fladen mit Sesam obendrauf«, sagte Dorit.
    »Es macht mir nichts aus, natürlich nicht«, antwortete Chajale.
    Dorit lächelte und sagte zu mir: »Sie hört nicht wirklich zu, morgen wird sie mir Passionsfruchtmus bringen.«
    Auch ich lächelte, trotz des Sturms in meinem Inneren. Ich lächelte und dachte an den süßen Geschmack von Freundschaft außer Konkurrenz, von Freundschaft, die fortbesteht und besteht, jenseits der Routine und der ruhigen Gewässer des Alltags.
    Vielleicht ist das tatsächlich die einzig wahre Freundschaft, dachte ich. Nur mit den Freundinnen aus der Kindheit schaut mein Vater noch aus dem Gebüsch auf mich, marschiert meine Mutter noch auf dem Gehweg, mit heftigen Schritten, kurz vor dem Schweigen. Nur über ihre Haare hatten die Hände meiner Mutter gestrichen, nur mit den Freundinnen aus der Kindheit sehe ich noch ihre streichelnden Finger. Nur im Miteinander unserer Freundschaft ist alles bewahrt, die alten Wunden, die Wahrheit, von der niemand weiß, dass es sie gegeben hat, wir sind füreinander unsere Erinnerungen.
    »Wie uns das
schtetl
doch verfolgt«, murmelte ich.
    »Verfolgt hat, verfolgt und verfolgen wird!«, erinnerte michChajale an das, woran mich niemand erinnern musste. »Es wird uns nie im Leben loslassen.«
    Zu dritt gingen wir zum Parkplatz. Chajale stieg in den glänzenden Jeep.
    »Sie wird keine Wohnungen mehr putzen, wie ihre Mutter es getan hat«, sagte Dorit.
    »Aber sie wird Körbe mit Passionsfruchtmus nach Hause bringen«, sagte ich. Wir lachten beide. Chajale fuhr los.
    Ich blieb noch stehen, suchte in meinen Taschen nach dem Autoschlüssel.
    »Ich bin verrückt nach ihr«, sagte Dorit und schluckte. »Und nach dir auch«, fügte sie verlegen hinzu. »Ich habe im Lauf der Jahre viel über dich nachgedacht, über dich und über deine Mutter. Und über meine Kinder. Ich habe gedacht, dass sie, egal was ist, zumindest ihren Vater kennen.«
    Ich wurde starr und stumm.
    »Wir treffen uns im Kino«, versuchte Dorit mich aufzumuntern.
    »Klar«, sagte ich mit erstickter Stimme. »Kino und Popcorn.«
    »Ab jetzt   – vier Tage im Jahr.«
    »Mögen sie sich mehren«, rutschte es mir unwillkürlich heraus.
     
    Auf dem Weg nach Tel Aviv dachte ich an meine Mutter und meinen Vater, die einander im Kibbuz begegnet waren, sie Krankenschwester, er ein kranker Mann. Man hatte ihn nicht als Mitglied akzeptiert, meine Mutter verließ zusammen mit ihm den Kibbuz, sie kamen in unser Viertel, heirateten, und ich wurde geboren. Ich dachte auch an meinen Onkel und an den Bruder, den ich vielleicht gehabt hatte. Aber vor allemdachte ich an meine Mutter, die meinen Vater in eine Anstalt abgeschoben hatte. Ich zitterte am ganzen Körper.
    Dort hatte ihr Schweigen seinen Ursprung. Ich spürte, dass ich mich zum ersten Mal

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