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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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in meinem Leben dem Punkt näherte, an dem sich das Geheimnis verbarg, dass ich endlich, endlich in die Tiefen der Seele meiner Mutter vordrang, zum Grundstoff, aus dem sich die Geschichte meines Lebens zusammenfügte.
    Ich sah sie, ein junges, hochgewachsenes Mädchen, schmal, blond, mit sanften braunen Augen, Teil einer großen Familie. Neben ihr sitzt ihr Geliebter und sie streichelt ihren Bauch, träumt davon, bald Mutter und auch Ärztin zu sein.
    Und dann öffnen sich die Tore der Hölle, sie geht hindurch. Ihr Geliebter wird ermordet, das Baby, das ihr geboren wurde, wird getötet. Sie wird in Lager gebracht, sie wird zu den Toten geworfen, sie stirbt, bis sich zu ihrem Bedauern zeigt, dass sie noch am Leben ist, sie erhebt sich zwischen den Leichen, schaut auf die neue Welt, wandert wie eine Schlafwandlerin durch die Orte ihrer Kindheit, das Nichts droht sie zu verschlingen. Mit letzter Kraft macht sie sich auf den Weg nach Israel.

7
    AUF DER ÜBERFÜLLTEN STADTAUTOBAHN hinein nach Tel Aviv begann ich, urbane Luft zu atmen, das einundzwanzigste Jahrhundert hatte mich wieder, ich richtete mich in der Gegenwart ein.
    Mein Telefon klingelte.
    »Hi, ich bin’s«, sagte Chajale in entschuldigendem Ton. »Ich bin gerade in Tel Aviv angekommen und habe beschlossen, zu Oldak zu fahren, Gadis Vater. Ich will ihn in den Arm nehmen und ihm ein bisschen von dem Lauf zu Ehren Gadis erzählen.«

    »Du bist die Tochter von Jakob«, hatte Herr Oldak, der Mathematiklehrer, voller Freude gesagt, als er am ersten Schultag der zehnten Klasse meinen Namen im Klassenbuch las. »Wie geht es ihm?«, hatte er mich aufgewühlt gefragt. »Ich war mit ihm im Krieg zusammen.«
    Ich war geschockt. Im Klassenzimmer wurde es still.
    »Aber sie hat gar keinen Vater«, kam mir Dorit zu Hilfe.
    »Er ist tot!«, rief Bracha aufgeregt.
    Mir schnürte es den Hals zu. Bracha hatte jede meiner besänftigenden Antworten weggewischt   – er versteckt sich, er ist in Amerika, er ist weit weggefahren, er ruht in Frieden, er wirdnicht kommen, er ist nicht da. Meine Chancen gegenüber dem Lehrer und der Klasse waren dahin.
    »Also ist auch Jakob tot«, murmelte Herr Oldak.
    In der Stille, die um mich war, sah ich meinen Vater, der sich in einem kalten, armseligen Zimmer auf dem Bett windet und Blut spuckt. Ein zäher Husten quält seine Lungen, seine Augen weiten sich vor Schmerz, sein Körper wird von einem Hustenkrampf geschüttelt.
    Szenen aus dem
Zauberberg
tauchten vor mir auf.
    Ich sah, wie der alte Sanatoriumsarzt erschrocken herbeieilt und meinem Vater ein Thermometer in den Mund schiebt. Die Hitze seines Körpers treibt das Quecksilber hoch, das Thermometer zerplatzt in tausend Stücke. Auswurf quillt aus seinem aufgerissenen Mund, seine Rippen stehen hervor, der Bauch ist eingefallen, sein feuerrotes Gesicht verfärbt sich blau.
     
    Nach der Pause kehrte ich nicht in die Klasse zurück.
    Meiner Mutter erzählte ich nichts.
    In der Nacht legte sie mir den Inhalator unter das Kissen. »Für den Notfall«, sagte sie. Sie diagnostizierte meine Not auf ihre eigene Art. Sie fragte nicht, was passiert war.

    Wie bei einer Liebe, die sich weigert zu erlöschen, wuchs in mir wieder der Drang, etwas über den Mann zu erfahren, der mir vorenthalten worden war. Nur noch dieses eine Treffen und dann Schluss, sagte ich mir, um mich zu beruhigen.
     
    Chajale dirigierte mich telefonisch zu einem ruhigen Viertel in Ramat Gan. Gemeinsam betraten wir Herrn Oldaks Wohnung. Er empfing uns mit einem Lächeln.
    Gerührt betrachtete ich den gut aussehenden, beeindruckenden Mann, dem die Zeit ihren Stempel aufgedrückt hatte. Er war weißhaarig und gebeugt und er sprach mit vielen Pausen.
    Er bat uns ins Wohnzimmer. Herr Oldak setzte sich zu mir, erkundigte sich bei Chajale, wie viele Menschen an dem Lauf teilgenommen hatten, fragte nach dem Wetter und nach Adi.
    Chajale bewegte sich in seiner Wohnung, als wäre es ihre eigene, sie kochte Tee und servierte Kekse.
    »Ich treibe mich in dieser Wohnung schon seit fünfunddreißig Jahren herum«, sagte sie.
    Herr Oldak warf ihr einen dankbaren Blick zu.
    »Kennst du Adi?«, fragte er mich. »Was für ein wunderbarer Mann, was für ein Freund.« Seine Augen leuchteten. »Weißt du, ich kenne ihn, seit er ein kleiner Junge war. Ich habe auch seine Eltern gekannt, sie haben nicht weit von hier gewohnt. Als sie von Polen nach Israel kamen, habe ich Adi Hebräisch beigebracht, Gadi und Adi sind zusammen in die Schule

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