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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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gegangen, sie wurden auch gemeinsam zur Armee eingezogen.«
    Chajales Offizier ist also in Polen geboren, dachte ich, das hat sie mir nie erzählt. Ich lächelte in mich hinein. Jede von uns verschweigt etwas, jede hat ein Geheimnis. Ich senkte den Blick.
    Chajale setzte sich zu uns, nachdem sie Tee und Kekse auf den Tisch gestellt hatte. Sie deutete auf mich. »Sie ist hier, weil sie dich nach ihrem Vater fragen will.«
    Doch er erkundigte sich nach meinem Mann und meinen Kindern und ich erzählte.
    Als ich wieder schwieg, senkte Herr Oldak seinen Blick. »Ehrlich gesagt, ich erinnere mich nicht mehr an sehr viel.« Er hatte Angst, mich zu enttäuschen.
    »Ich habe Erfahrung mit Enttäuschungen«, beruhigte ich ihn.
    »Wir waren eine kleine Gruppe von Menschen, die von Polen nach Russland geflohen sind«, fing er an zu erzählen. »Die Russen setzten die Flüchtlinge als Arbeitskräfte ein, statt der russischen Männer, die an der Front waren. So kam ich in ein Arbeitslager in Samarkand. Dein Vater arbeitete im Lager, ich gehörte zu den Wachmannschaften, deshalb haben wir uns nur sehr selten getroffen, verstehst du, die Russen hatten Angst, die Deutschen würden näher rücken, deshalb schickten sie uns dauernd auf Patrouillen.« Herr Oldak schloss die Augen. »Nachdem Chajale angerufen und gesagt hat, dass du mit ihr kommst, habe ich deinen Vater vor mir gesehen, wie er mit seinen schmalen Händen im Eis und im Schnee gegraben hat. Es gab dort im Winter kaum etwas zu essen. Die Einheimischen gruben Schildkröten aus dem Schnee, brachen den Panzer auf und aßen das Fleisch. Wir haben es ihnen nachgemacht.« Anerkennend fügte er hinzu: »Jakob war ein Fachmann, was die Schildkröten betraf.«
    Ich wusste nicht, was ich mit diesem Kompliment anfangen sollte. Schade, dass wir keinen Paragraphen haben, der Orden für das Ausgraben von Schildkröten in Kriegszeiten gewährt, dachte ich. Ich dachte an die Schildkröte, die mein Vater aus dem Schnee ausgegraben hatte, wie ihr Panzer zerschlagen wurde, um an das Fleisch zu kommen. Mehr konnte ich mir nicht vorstellen. »Leider kann ich mich an Einzelheiten nicht erinnern«, entschuldigte sich Herr Oldak, »auf jeden Fall hat er Schildkröten gefangen.«
    Vielleicht ist es ganz gut, dass er sich nicht mehr erinnert, tröstete ich mich über sein Vergessen hinweg und erinnerte mich an meinen Traum: Mein Vater war Partisan.
    »Erinnern Sie sich noch, wie er aussah?«, fragte ich.
    Ich sah, dass ihn diese Frage überraschte. Dann verstand er.
    Sein Gesicht hellte sich auf, als er antwortete: »Er war groß und hatte lockiges Haar, genau wie du. Als ich dich damals in der Schule gesehen habe, habe ich deshalb keinen Moment gezweifelt, dass du seine Tochter bist.«
    Ein Lächeln erschien auf meinem Gesicht.
    »Er hatte schmale Hände und schöne grüne Augen. Er war selbst im Winter nicht blass, er hatte eine Haut wie ein Sabre. Er hatte ein längliches Gesicht und den Blick eines guten Menschen und ein angenehmes Lächeln.«
    Ich sah, wie Herr Oldak sich freute, dass er etwas hatte, was er mir erzählen konnte, dass er sich sehr bemühte, mir mit Worten ein Bild meines Vaters zu malen, ein Bild, das ich nie gehabt hatte.
    »Wissen Sie etwas von seiner Vergangenheit, von der Zeit vor dem Krieg?«, fragte ich, als er aufhörte zu sprechen.
    »Nein, leider nicht. Wer hat damals über sein Leben vor dem Krieg gesprochen?«
    Wieder breitete sich im Zimmer Stille aus.
    Herr Oldak bemühte sich, mir zu helfen und suchte nach weiteren Erinnerungen. »Als ich hier ins Land kam, erfuhr ich, dass Jakob den Krieg überlebt hatte. Jemand hat mir erzählt, er sei in einem Kibbuz, und später hörte ich, er sei krank.«
    »Von wem haben Sie es gehört?«, wollte ich wissen.
    »Von Freunden aus Samarkand, man traf sich bei Beerdigungen oder bei Gedenkveranstaltungen.«
    »Hatte mein Vater Kontakt mit jemandem? Ist er auch zu den Beerdigungen gekommen?«
    »Ich glaube nicht. Er war ein ruhiger, bescheidener Mensch. Immer wenn sein Name fiel, wurde auch deine Mutter erwähnt. Man sagte, sie sei eine schwierige Frau, eine sonderbare Frau.« Selbst erschrocken über die Adjektive, die ihm für meine Mutter herausgerutscht waren, schaute er mich voller Zuneigung an und fügte hinzu: »Vielleicht hatte es ja etwas damit zu tun, was sie im Krieg durchgemacht hatte? Du weißt bestimmt mehr darüber.«
    »Nicht viel«, sagte ich und fasste das Wichtigste zusammen. »Ich glaube, sie hat im Krieg einen

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