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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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vor kurzem verstanden, wie bedauernswert sie waren, wie ehrenhaft sie den üblen Tratsch von Frau Koslowski schweigend ertrugen, die hochgezogenen Augenbrauen von Frau Silberman, von Itta, von Fejge und all den anderen reinen Seelen. Und was das Erstaunlichste war: Nach dem Tod meines Vaters wurde meine Mutter wieder Jissachars Frau. Bracha hat vor einiger Zeit für mich die Heiratsurkunde von ihm und meiner Mutter gefunden. Aber als ich meiner Mutter die Urkunde zeigte, behauptete sie, nur mit meinem Vater, mit Jona, verheiratet gewesen zu sein, sie kenne dieses Dokument nicht. Ein paar Tage darauf bekam sie einen Schlaganfall, und das war’s, jetzt gibt es niemanden mehr, den ich fragen könnte. Dich vielleicht?« Ihre Augen leuchteten plötzlich auf.
    »Mich?«, fragte ich erstaunt.
    »Natürlich dich, wen denn sonst? Ich weiß noch, wie du immer zu uns hereingespäht hast, durch die Hecke, hinter der aufgehängten Wäsche hervor, durch die Fensterläden.« Sie lachte. »Du wolltest doch immer alles wissen, du hast dauernd Fragen gestellt. Für mich ist die Sache mit dem Fragen relativ neu, und bei Dorit tauchen die Fragen noch nicht mal am Horizont auf. Und Bracha?« Sie lachte. »Gut, dass wir sie haben, sie weiß alles, aber nur über andere. Von ihr habe ich schon alles erfahren, was möglich war.« Sie schaute mich an. »Nun? Jetzt bist du mit dem Erzählen dran.«
    »Also«, gab ich reuevoll zu, »ich habe wirklich immer alles wissen wollen. Wenn ich schon nichts über mich herausfinden konnte, dann wollte ich wenigstens wissen, was bei den anderen passiert, in den normalen Häusern, solchen mit Vater und Mutter.« Ich lächelte entschuldigend.
    »In normalen Häusern?« Chajale brach in lautes Lachen aus. »Wie bei mir, zum Beispiel? Oder wie bei Dorit oder wie bei den Poschibuzkis?« Sie konnte sich nicht beruhigen. »Du bist wirklich eine Phantastin«, sagte sie voller Zuneigung. »Du bist in Ordnung, wirklich in Ordnung. Ich habe immer gedacht, dass du, nach allem, was du weißt und gesehen hast, bei jeder Beerdigung im Viertel nur auftauchst, um dich zu vergewissern, dass unsere verrückte Welt wirklich untergeht, mit ihnen stirbt.«
    »Vielleicht«, sagte ich. Ihre Hypothese gefiel mir.
    »Vor ein paar Tagen ist mir plötzlich eingefallen, wann meine Mutter mir erzählt hat, dass dein Vater gestorben ist. Das war in jenem Sommer, als ich mich für die Aufnahmeprüfung am Konservatorium vorbereitet habe. Ich weiß, dass du wolltest, ich solle mit dir und Dorit in der Allee spielen, und ich habe zu dir gesagt, ich müsse üben. Bis zum Abend habe ich Klavier gespielt, weil ich Angst hatte, ich könnte mich nicht beherrschen und dir verraten, dass dein Vater gestorben ist. Ich fürchtete, deine Mutter würde dann böse werden und aufhören, Jissachar zu behandeln, denn meine Mutter hat immer gesagt, es sei nur Helena zu verdanken, dass er es nicht schaffe, sich umzubringen.«
    Chajale verstummte, schloss die Augen. Einen Moment lang kam sie mir wie eine der Puppen vor, die ihre Augen auf- und zumachen können, Puppen, wie sie früher, in große Kartons verpackt, am Busbahnhof verkauft wurden.
    »Wovor habe ich mich eigentlich nicht gefürchtet?«, fragte sie. Sie hatte sich im Stuhl zurückgelehnt, ihre Augen waren noch immer geschlossen. »Glaub mir, mit einem Leben wie unserem, mit einer Kindheit wie unserer, war es das Beste, zu phantasieren oder Klavier zu spielen oder zu tanzen, tanzen, tanzen.«
    Danach saßen wir noch eine Weile schweigend zusammen und schauten über das Meer.
    Bevor wir aufbrachen, zog Chajale aus ihrer Tasche einen Lippenstift und einen Spiegel. »Ein bisschen was kann man trotzdem reparieren«, bemerkte sie.
    Wir lachten, bezahlten und waren schon am Gehen. In diesem Moment klingelte mein Telefon.
    Jerucham-Grabsteine rief an. »Ich glaube, in zwei Wochen werden Sie das Grab Ihres Vaters nicht wiedererkennen«, verkündete er.
    Ich habe es sowieso nicht gekannt, dachte ich.
    »Es wird wie neu sein«, fügte er hinzu.
    Chajale hatte das Gespräch mitgehört. »Endlich können wir auch zu deinen Totengedenkfeiern kommen«, sagte sie, begeistert von der Neuerung.
    Dann verabschiedeten wir uns voneinander.

8
    UM DIE MITTAGSZEIT des Gedenktags für die Gefallenen der israelischen Armee, zur Stunde der Stille und der Heimatlieder, kühlte mein Mohnkuchen, den ich zur Feier des heute Abend beginnenden Unabhängigkeitstages gebacken hatte, bereits auf der Küchenanrichte aus und

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