Das schweigende Kind
nach diesem Leben, das man selbst gezeugt hat, das fassbar ist – so greifbar wie dein jedesmal überraschendes Gewicht, wenn ich dich über eine Pfütze schwingen ließ, weich wie deine Haut, auf der die Schrammen so viel schneller verheilten als die Kratzer auf meiner Wange, wenn du von mir genug hattest.
Denn auch das war meine Liebe zu dir: meine Macht zu erleben, wenn ich dir in den Bauch biss, mich balgte mit dir, dich zwickte, knuffte und kitzelte, dein Körper das Fleisch meiner Lust und Angst. Am Ende unseres Atems, verschwitzt wir beide, miteinander ringend, Gesichter ziehend, zähnefletschend uns umeinander drehend, die Haut gerötet, voll blauer Flecke und Knutschmale aber ging es auch um anderes: nicht bloß den eigenen Leib zu spüren, vielmehr eine Figur von sich – die Wunschvorstellung von einem selbst.
Aus demselben Grund braucht ein Maler ein Modell, das ihm seine Nacktheit zeigt: damit er sich abbilden kann. Tizian mischte die Pigmente mit seinem Blut und Sperma, Modigliani geriet jedes Gesicht zur Mandel, Ingres verlieh seiner Odaliske einen zusätzlichen Halswirbel, El Greco zerschnitt seine Silhouetten mittels greller Farbigkeit, bis Giacometti sie zerschmolz zu flüssigem Erz, in dem sich die eigene Gestalt wieder verlor. Doch wer hätte nach Cézanne, jede Form zerbrochen, noch einen Apfel malen können?
Darum versuchte ich mich an Dutzenden von Ansichten, jeder Abschnitt ein eigener Blick, in jeweils unterschiedliche Winkel. Ich sehe mich zu verschiedenen Zeiten, an einzelnen Orten, mit immer anderen Menschen; doch allein weil alles stets nur auf dich zuläuft als gemeinsamen Fluchtpunkt, kann ich sagen: Das bin ich. Und doch bleibt dieses Ich eine Projektion, deren Geraden sich bloß auf diesen Blättern schneiden. Es ist wie mit den Konstellationen: jeder Lichtpunkt ist eine ferne Sonne, in ihrer je eigenen Sphäre, ihrer je eigenen Unendlichkeit und in unendlichem Abstand voneinander, und nur ich bin es, der darin eine Figur oder gar einen Plan zu erkennen glaubt. Ich war mit dir dem Himmel zu nahe gekommen, sah nun zuviel und zugleich zuwenig.
Was ich beschreibe, ist mein Sündenfall; er ging meiner Vertreibung aus einem Garten Eden voraus, in dem ich mich mit deiner Mutter wähnte. Dich zu bekommen war meine Prüfung; erst durch dich habe ich erkannt, wie unzulänglich und bedürftig meine Beziehung zu deiner Mutter war und dass mir mein Gehorsam kein Anrecht auf Unschuld gab. Nichts und niemand hatte mich gezwungen, in den Apfel zu beißen, den sie mir mit dir hinhielt, oder Verantwortung für mich zu übernehmen. Das jedoch merkte ich erst, als du mir vorenthalten wurdest, mir verboten wurde, dich zu sehen: dies zu missachten war so zerstörerisch, weil ich mich damit gegen ein erlassenes Fernhaltegebot stellte. Ich begab mich aus meiner selbstverschuldeten Unmündigkeit; doch statt endlich über mich zu bestimmen, blieb ich im leeren Gestus des Ungehorsams befangen.
EINUNDZWANZIG
Selbst wenn Worte und Figuren uns der Vergangenheit entreißen und sie als gegenwärtig vor Augen rücken, tritt das Eigene darin immer weiter zurück und geht in Allgemeinem unter.
Reihe ich Satz um Satz aneinander, dann um nachvollziehbar zu machen, wie deine Mutter zu Tode kam. Die Umstände im Nachhinein darzulegen stellen mich allerdings auf eine Art und Weise in Frage, dass ich mich in eben jenen Apologien ergehe, denen schließlich auch das Gericht jede Berechtigung abgesprochen hat.
Wenn ich dir jetzt diesen einen Tag in Kroatien dennoch schildere, so gut ich es vermag, dann um dir ein paar Momentaufnahmen zu geben, ausgeblichene Polaroids nebeneinandergelegt. Es sind keine zufälligen Schnappschüsse; doch das zentrale Bild fehlt. Ich will auch nicht behaupten, die Gespräche an diesem Tag wiedergeben zu können: bei den meisten Begegnungen ergehen wir uns letztlich in Monologen, welche unsere eigentliche Beziehungslosigkeit ausfüllen sollen.
Milan hatte sich zu uns an den Tisch gesetzt und dem Verleger wortlos den Aktenkoffer hingeschoben; er ließ die beiden Riegel aufklacken und klappte den Deckel hoch. Hatte ich angenommen, mit meiner Unterschrift einen Betrag in der Landeswährung quittiert zu haben, starrte ich nun überrascht in einen Koffer, der mit Bündeln von blassgrünen und lila Euroscheinen vollgestopft war, eine Summe, mit der man sich hier wohl einige Villen kaufen konnte.
Ohne mich eines Blickes zu würdigen, führte der Verleger die Konversation fort, als hätte ihn
Weitere Kostenlose Bücher