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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Schrott
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Das Kapital hat den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft nicht erst gestern nivelliert, der Staat ein leerer Ort, die Gesellschaft ein Terrain, das von der Macht des Geldes völlig absorbiert wird. Die Ausbeutung verläuft heute vielmehr quer durch das Bewusstsein statt an Klassengrenzen entlang. Das lässt jeden Klassenkampf überflüssig erscheinen, zugleich mit jeder permanenten Revolution und jedwedem ideologischen Ziel: was sich dabei ausbreitet, ist ein aleatorischer Materialismus. Seine Agitatoren ähneln amerikanischen Landstreichern, die auf irgendeinen Waggon springen, um sich mitnehmen zu lassen, egal wohin. Mit den alten Ideologen, die bürokratisch den Fahrplan überprüfen und die Endstation festlegen wollten, haben sie nichts mehr gemein. Denn in diesem Zug haben ihre Tickets keine Gültigkeit mehr, meinte er, während Milan sich zu uns an den Tisch setzte.
    Dušan lässt ausrichten, wir sollen schon mal das Geschäftliche regeln.

NEUNZEHN
    Selbst wenn sich das Schreiben als Akt der Gegenwehr erklären lässt, es bleibt dennoch eine Art Notzucht.
    Die Erziehung meines Vater nötigt mich bis heute, in seinen Begriffen zu denken; es kostet mich jedesmal Anstrengung, seine Vorstellungen zu überwinden. Ihn engstirnig zu nennen wäre ungerecht, dazu begegnete er den Allüren meiner Mutter mit zuviel Liebe; dennoch war an seinem Wesen etwas Unverrückbares.
    Wenn ich mich seiner erinnere, sehe ich ihn im Keller an der Werkbank sitzen. Er hatte seinen alten Branauer Hof aus Zündhölzern nachgebaut, penibel mit Pinzette und feinem Pinsel hantierend; sein Prunkstück jedoch war das Neue Jerusalem. Ein Würfel aus Häusern, so hoch wie lang und breit, für jede Seite drei Tore, die sich in den Angeln drehen ließen, makellos ausgeführt; auch die Straßen mit Blattgold auszulegen war ihm akkurat gelungen. An den Grundsteinen und Mauern arbeitete er jedoch bis zu seinem Tod; er fand nie die rechten Lacke, um sie wie Edelsteine erglänzen zu lassen, von den Engeln davor ganz zu schweigen, die er erst aus Lehm knetete und buk, dann durch Zinnsoldaten und schließlich durch meine Spielzeugfiguren ersetzte. Er merkte nicht, dass ihm diese Stadt zu überladenem Tand geriet, so sehr war er in das Planspiel Gottes vertieft.
    Arbeitete er nicht an seinen Modellen, las er mir aus der Edda vor, am liebsten jene Stellen, wo es um den Thingplatz und die Rituale des Gerichts ging: die Vorkämpfer mit Namen wie Thorhall oder Thoroddsson, die sich jede Partei auserkor, um ihre Ansicht zu vertreten, die Weihe sodann, auf dass kein Spruch ihre Waffen stumpf werden lasse, das Schicksal als Schiedsrichter – während ich mir vorstellte, wie diese Kämpfe auf seine Modellstädte übergriffen, sich von Gasse zu Gasse zogen, die Schwerter alles kurz und klein hauend.
    An seinen Gott glaube ich nicht mehr; doch die Konstellationen des Himmels auszumalen war mir dafür wohl Ersatz. Anders als meines Vaters altertümliche Vorstellungen, sah ich in ihnen ein unregelmäßiges Gitternetz, das sich ausdeuten ließ, skelettiert genug, um die unterschiedlichsten Gestalten darin zu erkennen, offen genug, um die allseits bekannten Mythen individuell auslegen zu können. Mir wurde bei der Arbeit jedoch zunehmend bewusst, dass solche Figurationen auf bloßer Willkür beruhten.
    Um den Schlangenträger am Nachthimmel zu finden, verwies mein Sternenhandbuch auf seine Ähnlichkeit mit dem Wünschelbein eines Vogels, und Herkules’ Umriss wurde mit einer Lilie verglichen, ihrem Becher, die Blütenlippe aufwärts geschwungen zu den zwei Sternen, die von Eta über Delta zu Gamma führen. Dabei gibt es nichts, was eins mit dem anderen verbindet; die Bilder des Kosmos sind bloße Kosmetik, die Sterne nur griechische Buchstaben, die keine Botschaft erkennen lassen. Dagegen steht unser ganzes lächerliches Bestreben, das Sinnlose mit einem Gesicht zu übermalen, ohne den schwarzen Grund darunter je überdecken zu können.
    Es ist wie mit unseren Eltern, von denen wir uns ebenfalls nie völlig lösen können, von dem Vorbild, das sie uns geben, der Leere, die sie in uns hinterlassen. Sollten diese Seiten darum eine Absicht haben, dann die, dich mit mir und meiner Geschichte zu konfrontieren, damit du dich in ihr wiederfindest und sie dadurch überwindest.
    Ich bin immer noch wach; in den letzten Tagen habe ich die Pillen unter die Zunge geschoben, ohne sie zu schlucken, ein Obolus, der mir ein wenig Klarsicht erkauft, bevor alles wieder dem

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