Das schweigende Kind
trägst eines der dir schon zu kurz gewordenen Kleider, die deine Mutter dir immer dann anzog, wenn ich dich abholte. Du bist in den Monaten, wo sie unser Zusammensein verhinderte, groß geworden, weißt nicht mehr recht, was anfangen mit mir, und willst dich hinüber zu Kim stellen, merkst aber, dass da etwas zwischen ihr und mir ist, das du nicht benennen kannst. Du sprichst noch immer nicht, auch in unserer erfundenen Sprache finden sich keine rechten Worte, zuviel hat sich zwischen sie geschoben.
Ich habe dich deshalb aus dem Foto geschnitten, als könnte ich dir dadurch etwas von dieser Verschlossenheit nehmen, die du mir gegenüber immer öfter an den Tag gelegt hast, deine Silhouette dann aber wieder eingeklebt. Wie mir dein breitzahniges Lächeln fehlt, der Schwung, mit dem du dich mir so oft in die Arme geworfen hast, das Balgen mit dir, wenn wir uns auf dem Boden wälzten, uns zusammenraufend, ohne dass du genug davon bekamst, dem unschuldigsten aller Liebesakte gleich.
ZWANZIG
Einem Schriftsteller mag ein Blatt Papier Revanche für die Armseligkeiten des Menschseins erlauben, einem Tänzer die Bühne, dem Architekten das Terrain – ich kann darauf nur die Wendepunkte meines Lebens skizzieren.
Was davon blieb, war ein Grundriss im DIN-Format: doppelte Linien für die Mauern, die Fenster gestrichelt, Kreisbögen für die Türen, im Schriftfeld Materialangaben und Revisionsvermerke. Dich zum ersten Mal zu verlieren bedurfte keiner Begründung; es genügte der formelle Antrag deiner Mutter.
Das Gericht überging meine Eingaben und Abänderungsvorschläge, hielt sich an die Maß- und Toleranzvorgaben der Judikatur und räumte mir mit dir einen Sonntag im Monat von 10.00 bis 17.00 ein, einen Weihnachts- und einen Ostertag. So wurde aus dem Entwurf unseres Hauses, in einem Bistro gegenüber vom Pont des Invalides damals auf eine Papierserviette schraffiert, ein baustatisches Schema mit Prüfstempel und Erstellungsnummer, eine Detailansicht, die nur noch einen Ausgang aufwies, der Aufriss umgezeichnet zu einer Betonwand, der Zugang nur mehr von der Straßenseite möglich. Kein Wachen mehr an deinem Bett, wenn du krank warst, kein Christbaum, den ich dir mit Orangen und Mandarinen hätte schmücken können, die Geschenke vor die Tür gestellt, kein Blick durchs Fenster deines Kindergartens manchmal, das Telefon stets durchklingelnd, wenn ich es nicht mehr aushielt und dich meine Stimme hören lassen wollte: du sprachst noch immer nicht, aber du solltest wissen, dass ich dich nicht im Stich gelassen hatte.
Was blieb, waren vom Gericht gestempelte Normen und Regeln im Zeichnungskopf: doch selbst daran hielt sich deine Mutter nicht, fuhr mit dir an meinen Besuchstagen in den ›Urlaub‹, verweigerte mir den Zutritt, indem sie vorgab, du wärest krank; selbst an deinem Geburtstag wurde ich abgewiesen, Luftballons in der Hand, die ich schließlich an eine Eisenspitze des Zauns band. Was einmal in unserer Liebe Platz gefunden hatte, fand nun nirgends mehr Raum, beschränkte sich auf einen Streifen Weg, Betreten bis auf Widerruf, dass ich nicht mehr wusste, wohin mit meiner Seele. Du warst mehr als eine Tochter und dies die Liebe eines Vaters: du warst der Teil, der sich abspaltet in diesem unmerklichen Dahinsterben von Tag zu Tag, das, was als einziges wirklich lebt.
Wenn du sie liebst, hörte ich von allen Seiten, dann lass sie und geh, geh deinen Geschäften nach. Und auf diese Weise, ferngehalten von dir, wurdest du mir immer fremder, ich damit aber auch mir. Je mehr abstirbt in einem, desto mehr wird ein Kind zur Nadel des Herzens: sie nordete nun den Plan ein.
Nicht erst jetzt, die ganzen letzten Jahre war ich gefangen und verlor mich im hartnäckigen Aufbegehren dagegen, dich zu verlieren. Dir ein Vater sein zu wollen, ohne es zu dürfen, zerriss mich, während deine Mutter vollständig zu werden schien, ihre innere Leere endlich ausgefüllt durch die Mutterrolle. Sie gefiel sich in all ihren Posen. Ich aber war zum Verstummen verurteilt, während jeder deiner Blicke, deine Hand, wie sie nach meiner griff, mich als deinen Vater beschwor – obwohl ich nur Mittelmaß war, ein Maler, der es zu nichts gebracht, ein Handlanger, der sich sein Geld mit dem Erstellen von Katalogen und Kopien verdient hat.
Mir fehlt die Unbekümmertheit der Männer, denen es ausreicht, ein Kind gezeugt zu haben, es der Mutter zu überlassen und dafür zahlen zu dürfen. Ich dagegen bin verstrickt in deine Existenz, dem Verlangen
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