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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Schrott
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holen können, der Hölle derer, denen ohne eigenes Verschulden der Himmel verschlossen bleibt, um mir mein Seelenheil zu verkünden: der gute Schächer an meiner Seite, der mich nicht verhöhnte, sondern Beistand bot.

ZWEIUNDZWANZIG
    Als dienten diese Aufzeichungen nur dazu, den Vorrat an Worten aufzubrauchen, um dann jene drei aufs Blatt setzen zu können, die alles bestimmen.
    Der Limbus ist kein Purgatorium. Das Fegefeuer ist jener Teil des Himmels, in dem die Seelen bis zur Auferstehung leiden; der Limbus dagegen jener Kreis der Hölle, in dem man nicht einmal mehr Schmerz verspürt, sich im Zugrundegehen erschöpfend. Je tiefer es mich hinabzieht, desto eher kannst du dich aus deinem Limbus befreien: das ist mir ein Trost.
    Nachdem zwischen mir und deiner Mutter eine Gewalt ausgebrochen war, die sich nicht mehr wie sonst in einem Geschlechtsakt hatte bannen lassen, eine tätliche Auseinandersetzung, du in der Mitte, erst wenige Monate auf der Welt, fuhren wir wie die anderen Jahre auch an den Atlantik, wo Louis uns sein Haus lieh. In der Isolation des Dorfes, dem auf allen Seiten offenen Horizont, der uns auf uns selbst zurückwarf, stieg noch einmal alles hoch und kappte dadurch jenes Letzte, das uns sonst immer zu verbinden geholfen hatte. Deine Mutter nahm meine Fürsorge um unsere Familie nicht wahr und fühlte sich auch nicht mehr als Frau begehrt. Und je mehr sie mich durch ihre ostentativ zur Schau gestellte Gleichgültigkeit abstieß, mit der sie wohl meine Aufmerksamkeit einfordern wollte, desto hässlicher erschien sie mir: es kostete mich Überwindung, sie noch zu berühren, ein Gefühl des Ekels stellte sich ein, der umso stärker wurde, als ich mich von ihr ewig in Frage gestellt sah. Wir entkamen diesem Kreisen nicht, das deine Mutter schließlich ganz aus dem Gleichgewicht brachte und in ihr bizarre Manien auslöste.
    So ließ sie plötzlich in den Läden und Boutiquen dieses Ferienortes irgendwelche Dinge mitgehen, einen daumengroßen Leuchtturm, Silbernadeln, ›Souvenirs unserer Liebe‹, wie sie es nannte. Dann wieder unternahm sie lange Spaziergänge am Strand, während ich dich in unserem reetgedeckten Haus hütete, um dann plötzlich mit irgendeiner männlichen Zufallsbekanntschaft in der Tür zu stehen, die mich überraschter ansah als ich sie. Oder aber deine Mutter fing im Restaurant an, bei den wenigen Malen, die wir ausgingen, mich unter dem Tischtuch zu begrapschen, ihr grelles Lachen die Blicke auf uns ziehend, um darauf ihren Träger über die Schulter zu schieben und mir zuzuflüstern, sie wolle jetzt mit mir schlafen, auf diesem Tisch hier, sofort.
    Als Louis für ein paar Tage zu Besuch kam und neben uns im Gästezimmer schlief, war der Bannkreis, der uns noch umgab, bereits durchschritten. Sie kam darauf zu sprechen, dass er und ich uns während der Studienzeit doch einige Frauen geteilt hätten, und das angeblich noch, als ich ihr schon längst den Hof machte, um dann nach seiner Hand zu greifen und sie an ihre Brust, ihren Schoß zu führen. Louis ließ sie gewähren; er sah mich dabei an, hilflos erst und dann doch aufgestachelt. Schließlich schlug sie vor, ans Meer zu gehen, zu unserem kleinen geschützten Winkel, der ob des Windes gänzlich verlassen lag. Sie zog sich aus, stellte sich vor uns, breitbeinig, die Arme herausfordernd in die Hüften gestemmt, und stieg in das graue Meer, dessen andonnernde Brandung rote Striemen auf ihren Körper zeichnete, immer weiter hinaus, bis ihr die Wellen über den Kopf schlugen. Sie hatte nie richtig schwimmen gelernt; deshalb lief Louis ihr nach, während ich bei dir blieb und uns in eine Decke hüllte. Ich sah deine Mutter: Louis hielt sie mit einem Arm, es schien, als vögelte er sie im Wasser, während sie langsam von der Strömung hinter den Felsvorsprung getragen wurden. Du begannst zu schreien, dir war kalt, aber ich blieb sitzen, in mich gekauert, mich wiegend, meine Hand wie abwesend deinen Bauch streichelnd.
    Sehr viel später, unentschuldbar später, kam Louis über den Kamm mit deiner Mutter, die völlig hysterisch war, Tränen über das vor Kälte faltige Gesicht rinnend, nicht mehr wiederzuerkennen. Ich beachtete sie nicht, ich wollte nichts mehr hören, nichts mehr sehen, bis sie mir ins Gesicht spuckte: Du Schwächling! Du bist für mich gestorben! Ich will dich nie mehr sehen! Ich halte das Leben mit dir nicht mehr aus! Du hast kein Rückgrat, hau ab, hau ab! Ich erhob mich und ging mit dir zurück zum Haus. Wir

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