Das schweigende Kind
Dunkel anheimfällt. Drüben, jenseits der Hecke, bilden die Lichter des Dorfes eine andere Art Konstellation; sie wirkt so beliebig wie ein Sternbild, ohne es zu sein – eine aus Kirche, Marktplatz und der Straße entstandene Figur, während es mir stechende Kopfschmerzen bereitet, all die einzelnen Fragmente zusammenzusetzen. Die vergangenen Jahre und die Tage in Kroatien, du und deine Mutter und Kim, das Erhoffte und das, wozu es mich geführt hat: es ist alles so disparat, weil ihm die Mitte fehlt.
Die Koje eines Bettes, ein schmaler Schreibtisch, ein Bord mit wenigen Büchern, das Bild an der Wand: 12 Quadratmeter sind alles, was mir geblieben ist, und mein eingefallenes Gesicht im Fenster, sobald ich die Lampe anmache. Doch wer mich nunmehr des Nachts anstarrt, aus all den Nächten, in denen ich sie nicht mehr erreichte, ist Kim.
Ich war zu ihr ins Bett gekrochen wie ein Kind, Geborgenheit statt Begehren suchend; bei Tisch war ich ihr bloß Genosse, auf Reisen ein Gefährte. Doch für eine Liebe genügt das nicht, für dieses Übermaß, das sie verlangt: Lust und Begier sind nichts anderes als die Spielformen eben jener Gewalt, die ich in meiner Krankenzelle hier abbüße. Ohne sie erhielt die Liebe keine Gestalt, blieb ich ein Wiedergänger meiner selbst, ein Bettgänger in unserem Schlafzimmer.
Jetzt weiß ich, dass der Grund dafür die Leere in mir ist; damals aber sah ich ihn in den langen Trennungen von dir, die ich nicht ertrug. Doch mit wem hätte ich reden können? Am Schluss hörte mir nur Kim noch zu, bis auch sie es nicht mehr ertrug, diese Monologe über eine andere Frau und deren groteske Posen. Und weil ich von dir nicht loskam, kam ich auch von ihr nicht los: ich wollte gar nichts anderes, als über euch nachdenken, als gäbe es da etwas zu ergrübeln und ergründen – es suchte mich heim wie ein Inkubus, ließ mich ewig um dasselbe kreisen, auf der Suche nach der einen Ursache, der einen Erklärung, die, richtig formuliert, die Macht eines Heilsspruches erhalten und einen Bann bewirken könnte.
Und so sehe ich Kim noch vor mir, höre aber nicht mehr, was sie sagt. Alles Denken hilft genauso wenig wie das Schreiben, es betäubt nur kurz, über das Zerredete hinweg. In den weißen Nächten war keine Stelle mehr unter den Sternen, die sich geöffnet hätte; ich starrte ohnmächtig an die Decke und führte endlose Selbstgespräche. Du wurdest mir verwehrt, sosehr ich mich auch auflehnte; geknebelt und geknechtet, entdeckte ich den Hass in mir – und dass er dieselbe Wurzel wie die Liebe hat. Ich lag neben Kim, hörte sie atmen, hätte der glücklichste Mann auf Erden sein müssen, und war doch der unglücklichste, heillos das Dunkel. Tagsüber sah ich dich in jedem Kind, das mir auf der Straße begegnete, glaubte deine Stimme aus dem Lärmen am Spielplatz herauszuhören, malte mir dein Gesicht hinter geschlossenen Lidern aus und versuchte nachzufühlen, wie es gewesen war, dich einmal im Arm gehalten zu haben.
Ob du dich noch an Kim erinnerst? Da ist das Foto von euch beiden, das ich zwischen die letzten Seiten dieses Heftes gelegt habe, um es wieder glattzupressen, aufgenommen in unserem Wohnzimmer. Es stehen kaum Möbel da, Wände und Parkett im selben verblichenen Gelb, der Türsturz im Hintergrund unsichtbar, abgehoben davon nur die Ornamente der meterhohen blau-weißen Vase, kein Original, vielmehr die grelle Imitation fernöstlicher Motive, der Rand oben abgeschlagen. Als Kim auszog, fanden wir darin ein Papierflugzeug, ein rosa Haarband, einen Werbezettel, Münzen, ein angebissenes und fast versteinertes Kuchenstück, mein lang vermisstes Adressbüchlein und eine Feder, lauter Dinge, die wahrscheinlich du dort deponiert hast. Kim steht davor, einen Arm unschlüssig hinterm Rücken, dem Objektiv zu nahe, das Gesicht vom Weitwinkel verzerrt, ihre kurzen schwarzen Fransen hoch über der Stirn, die Mandeln ihrer Augen auf mich gerichtet, als erwarte sie eine Entscheidung, bereits irgendwie resigniert, weil sie weiß, dass sie längst gefallen ist.
Du aber stehst auf der anderen Seite dieser Leere, eine Puppe in der Hand, die du auf dieselbe Weise hältst, wie ich sonst dich, doch ohne mit ihr zu spielen: schüchtern, für dich allein. Das Licht, das durchs Fenster fällt, überzeichnet deine Niedergeschlagenheit; kein Leuchten ist mehr um dich, du wirkst müde, erschöpft, der Blick zu Boden gerichtet, die Vase ein Echo deiner Gestalt. Das Haar fällt dir bereits auf die Schulter, du
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