Das schweigende Kind
allem aber wollte ich dir kein Christophorus sein, nein, du solltest selber laufen. Weißt du noch, wie wir in einem flachen Tal im Wald von Fontainebleau spazieren gingen, der Bach geschwollen, wie du nackt in seinen Kehren geplantscht hast und ständig auf die andere Seite wolltest, wo die Wiesen grüner schienen und die Brombeeren schwärzer, wie wir auf den glatten Wacken durch das strömende Wasser gingen, Hand in Hand, ohne dass du Angst bekommen hättest? Du hast dir nur auf die Zunge gebissen und die Augen zusammengekniffen: ein Lausmädel warst du, eine Räuberstochter und mein ganzer Stolz.
Ich besitze drei Schnappschüsse von dir; es sind die einzigen Bilder, die mir von dir geblieben sind. Auf einem von ihnen sitzt du auf meinen Schultern und steckst in meinem übergroßen braunen Pullover, weil es an jenem Herbstnachmittag kalt war. Auf dem mit Selbstauslöser geschossenen Foto bin ich leicht verwackelt, dich jedoch sieht man scharf genug, um die Sommersprossen auf deinem Gesicht zählen zu können. Man sieht darauf auch, dass dein rechtes Auge etwas größer ist als das linke, als wollte die Natur deutlich machen, aus welch ungleichen Hälften sie dich zusammengesetzt hat. Der Ausdruck dagegen ist unverkennbar der deine: Du blickst unverwandt auf die blinkende Diode der Kamera, auf alles, was da ist und kommen mag, dein breiter Mund erwartungsvoll geöffnet; doch was man auf diesem vielfach geknickten Abzug noch erkennt, ist ein tiefer Ernst, eine Klugheit vor der Zeit, was mich immer aufs neue traurig stimmt. Manchmal nehme ich diesen alten Pullover aus dem Schrank, aber natürlich riecht er nicht mehr nach dir.
SECHS
Was aber, wenn alles zugleich gegenwärtig ist, an unterschiedlichen Orten, zu verschiedenen Zeiten, ohne ein Nacheinander zuzulassen?
Erwachsen, wie man so sagt, wurde ich erst durch dich, nur in meiner Rolle als Vater fühlte ich mich auch stark, ansonsten fehlte es mir an Rückgrat – was der Verleger auszunützen verstand. Erhalten hatte ich bisher für meine Arbeit nur eine kleine Anzahlung, ich hatte auf Pump gelebt und erhoffte mir nun, die Tafeln fertig, den beträchtlichen Rest der in Aussicht gestellten Summe.
Also wartete ich auf einen passenden Anknüpfungspunkt in den zwischen Kunst- und jüngster Geschichte mäandrierenden Ausführungen, mit denen der Verleger Kim überschwemmte; er hielt erst inne, als ich ihre Hand ergriff. Wann sollen meine Arbeiten denn gedruckt werden?, sagte ich – und hätte auch wo oder wie fragen können. Der Verleger zögerte kurz: Das hängt eigentlich von Milans Bruder Dušan ab. Auf jeden Fall aber in diesem Jahr.
Dušan?, erwiderte ich überrascht, weil ich den Verleger für die federführende Person gehalten hatte. Es war das erste Mal, dass dieser Name ins Spiel kam; die Rede war bislang nur von einem Zeitungskonsortium gewesen, das am Verlag beteiligt war. Es ist eine komplizierte Geschichte, versuchte der Verleger zu beruhigen, sah zum Sonnensegel hoch, als müsste er sie sich erst zurechtlegen, und wandte sich wieder Kim zu, als wäre sie der einsichtigere Ansprechpartner.
Milan und sein Bruder stammen aus einer alteingesessenen Familie, die sich für das Referendum eingesetzt hatte. Doch was gelten in diesem Land schon politische Überzeugungen?, meinte der Verleger beinahe entschuldigend. Was zählt, sind Beziehungen, Zugehörigkeiten: Familie eben. Es herrschen Simonie und Nepotismus wie im Mittelalter – mit denen sich jeder nach dem Krieg seinen Ablass erkauft hat. Der Falke fliegt kraft seines Gefieders, heißt es hier, nicht dank seines Fleisches.
Was soll das heißen, ›sich für das Referendum eingesetzt haben‹?, fragte ich. Wie man zu Geld kam, erwiderte er, will heute nur noch der Internationale Gerichtshof wissen. Selbst Verlage gehen seltsame Wege. Auch hierzulande leistet man sich Aushängeschilder wie das unsere, bis man schließlich einsieht, dass der Glanz, den wir bieten, in keinem Verhältnis zum finanziellen Aufwand steht. Sobald man nach ein, zwei Jahren rote Zahlen schreibt, lohnt der Name selbst des besten Hauses nicht mehr. Was uns und solche Projekte wie das unsere rettet, sind vor allem die Vertriebsmöglichkeiten.
Die Buchhandlungen?, fragte Kim ungläubig. Bei unserem Spaziergang durch die Hauptstadt hatten wir nur eine größere gesehen, und die führte zur Hälfte ausländische Literatur. Nein, gab der Verleger zurück; das Netz von Kiosken, die ehemaligen altösterreichischen Tabaktrafiken, die
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