Das Schwein unter den Fischen
nicht entbehren zu können. Dabei hatte ich gar nicht die Absicht, es zu stehlen. Diesen hysterischen Materialismus verachtete ich leidenschaftlich, so wie sie meinen rücksichtslosen Umgang mit dem Besitz anderer verabscheute. Ich zeichnete Bettina Mittelkorn in dieser Zeit häufig. Die Reihe taufte ich »Bettina 1-64«.
Dann hatte Bettina Mittelkorn Glück. Sie meldete sich im Ethikunterricht fingerschnipsend, um den Referatsauftrag zu dem in meinem Besitz befindlichen Buch zu bekommen:
Der Ekel
von Sartre. Ich gab auf.
Ich bedauerte sie zutiefst und hämisch, da ich wusste: Dieses Buch würde Bettina Mittelkorn überfordern. Nach der Schule verfolgte sie mich bis zu unserem Haus. Als wir vor meiner Zimmertür standen, sprachen wir beide kein Wort. Ich öffnete die Tür, ging hinein, sie blieb abrupt stehen und sagte: »Oh.«
Auch als ich sie hereinbat und mit dem Fuß ein wenig Platz auf dem Boden schaffte, betrat sie mein Zimmer nicht. Bettina stand einfach nur da, bekam ihre roten Flecken und hielt die Luft an. Aus ihrer Sicht war mein Zimmer wohl mehr als unhygienisch. Das wunderte mich nicht. Zu meiner großen Überraschung aber schämte ich mich vor Bettina. Ich ahnte, ich würde sie nie davon überzeugen können, dass in so einem Zimmer ein halbwegs normaler Mensch leben könne. Da sie mich aber ohnehin längst hasste – sofern Bettina Mittelkorn zu einem so aufwendigen Gefühl überhaupt in der Lage war –, machte ich mir nicht die Mühe, irgendeine Ausrede zu erfinden. Ich gab ihr nur das Buch und bedankte mich mit einem Knicks für ihre Geduld.
Noch am gleichen Tag fertigte ich eine Kohlezeichnung von mir in meinem Zimmer an. So, wie Bettina es erlebt haben musste: Niemand außer mir hätte einen Menschen in dem Kritzelkratzel erkennen können. Ich war nie abstrakter gewesen und beendete deshalb meine künstlerische Auseinandersetzung über Bettina Mittelkorn und mich.
Seit Bettina bei mir zu Hause gewesen war, begann ich mich mit größerer Sorge zu fragen, ob andere wohl Schlechtes über mich dächten. Vielleicht lag es auch bloß an einem spätpubertären Hormonschub, aber Bettina Mittelkorn war zu der Zeit der lebende Beweis für Oma Sentas Mantra: Es spielt im Leben immer eine Rolle, was andere von dir denken.
ABIPARTY
Der Einzige, der mich nie Der Baum genannt hatte, war Kassian.
Als er mich nach meiner Entjungferung hinauswarf, habe ich nicht geweint. Ein paar Wochen später, als ich wegen einer schmerzhaften Mittelohrentzündung nicht schlafen konnte, fing ich endlich an zu heulen. Aber ich glaube, Kassian war viel trauriger als ich, er litt im Stillen unter irgendetwas. Eigentlich konnte ich froh sein, nichts mehr mit ihm zu tun zu haben.
Die anderen Mädchen aus meiner Klasse hatten im Vergleich zu Bettina Mittelkorn weniger unterhaltsame Kleingeistigkeit zu bieten. Regelmäßig waren sie wegen irgendwelcher Jungs, die sie kaum kannten, aufgelöst. Sie sagten, sie fänden erst dann jemanden heiß, wenn er abweisend zu ihnen sei. Das sei irgendwie sexy. Die Schlimmste von ihnen hieß Merle.
Mein letzter Schultag war ein erstaunlich heißer Tag im Frühsommer. Morgens, nach der mündlichen Abiturprüfung, betrank ich mich auf dem Schulhof, so wie alle anderen auch. Niemand ging nach Hause. Am frühen Nachmittag laberte mich Schulsprecher Simon schon seit einer gefühlten Ewigkeit mit Nonsens voll. Ich hörte ihm zu, da er seine Flasche Champagner mit mir teilte und die meisten Mädchen meiner Stufe in ihn verliebt waren und blöde rüberglotzten, während er mir den Nacken massierte. Er behauptete, während der Prüfung auf Koks gewesen zu sein, und redete unentwegt davon, »dringend was rauchen zu müssen«, um »entspannt wieder runterzukommen«. Er glaubte fest daran, ich könnte ihm etwas besorgen, weil er mich mehrmals mit Désirée aus der siebten Klasse in der Raucherecke gesehen hatte.
Ich besorgte ihm einen Beutel Gras von Désirée und machte sogar noch Gewinn dabei. Désirée war ein seltsames, zierliches kleines Mädchen. Obwohl in ihrem kurzen Leben offensichtlich schon viel schiefgelaufen war,trat sie viel entschlossener auf als ich. Irgendwie hatte sie es sogar geschafft, sich von den Steilshooper Jungs von der Haupt- und Realschule nebenan nicht das Geschäft vermiesen zu lassen. Inzwischen arbeiteten sie sogar zusammen.
Ich beobachtete sie mehrmals inmitten einer Gruppe von Jungs. Alle hörten ihr zu. Dabei machte sie nie so große Gesten wie die Typen. Sie hatte die
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