Das Schwein unter den Fischen
Feiertagen kaum mehr Zeit bei ihnen. Reiner stritt deswegen andauernd am Telefon mit seiner Mutter, Oma Senta. Als mein Opa ein paar Jahre später pensioniert wurde, kauften meine Großelternsich von ihrem Ersparten voller Stolz eine sechzig Quadratmeter große Haushälfte bei uns um die Ecke.
Nur wenige Wochen später starb mein Opa. Eines Nachmittags wachte er, der nie viel gesprochen hatte und soweit ich mich erinnern kann, nie direkt das Wort an mich richtete, einfach nicht mehr aus seinem Nickerchen im Sessel auf. Er starb, abgesehen von ständiger Verstopfung, als gesunder Mann. Die erste Konfrontation mit dem Tod beunruhigte mich nicht besonders, brannte sich aber, wegen unmittelbar folgender Ereignisse, dennoch in mein Gedächtnis ein.
Reiner erinnerte der Tod seines Vaters daran, dass auch er sterblich war. Nicht dass Reiner die Tatsache, dass er nur aus Fleisch und Blut bestand, aus der Ruhe brachte – ihn bedrückte vielmehr der Gedanke, dass Ramona sich nach seinem Ableben eher selber totsaufen würde, als sich um mich zu kümmern. Oma Senta konnte er nicht besonders gut leiden, und Tante Trixi weigerte sich, auch nur einen halben Abend auf mich aufzupassen.
Obwohl Reiner stets mit der Befürchtung lebte, meine Mutter könnte vorbeikommen und mich wieder mitnehmen – das Jugendamt hätte allein durch Ramona schlagende Argumente gehabt –, entschied er sich pragmatisch im Namen der selbstlosen Liebe, Kontakt mit ihr aufzunehmen.
Ein paar Tage nach der Beerdigung – ich wollte gerade los zur Schule und stand schon in der Tür – rief Reiner aus der Küche: »Stopp, Stint! Wir finden jetzt deine Mutter! Du hast ein Recht darauf!«
Er fuhr zunächst ziellos umher, bis wir
Rock Romance!
einmal ganz gehört hatten. Dann bog er in die Straße ein, in der er aufgewachsen war. Aber dort, wo einmal das Haus gestanden hatte, in dem die damalige Gastfamilie meiner Mutter gelebt hatte, klaffte nur noch ein großes Loch. Überall war Ruß und Schutt, alles war abgesperrt. Reiner hörte sich dann so lange bei den Leuten aus der Nachbarschaft um, bis er die Geschichte zusammenhatte: Es war eines Sonntagmorgens passiert. Auch der neue, junge Hausmeister war draufgegangen. Eigentlich hatte man ihn wegen des Gasgeruchs aus dem Schlaf klingeln wollen, doch niemand öffnete die Tür. Kurz danach flog das gesamte Haus in die Luft. Seine Leiche fand man im zerstörten Keller, bekleidet mit einem Spiderman-Morgenmantel.
Kein Hausbewohner hatte überlebt, außer Kater Friedrich, da er in den umliegenden Gärten unterwegs gewesen war. Verdutzt und mit einer ganzen Amsel im Maul hatte er plötzlich auf der anderen Straßenseite gesessen, erzählte uns die Kioskbesitzerin heulend. Sie sei ja kein Unmensch, aber langsam würde ihr das reizende Tier zu viel werden, und da wir ja so was wie entfernte Bekannte seien, sollten doch wir uns um ihn kümmern.
Sie hatte Friedrich in ihrem Kiosk untergebracht, und der hatte sich nachts über sämtliche Süßigkeiten hergemacht. Sie übergab uns das schokoladenverschmierte Tier mit einem erleichterten Seufzer. So kam ich zwar nicht zu einer Mutter, aber zu einer unbeirrbaren Katze, die auf sonderbare Weise mit meinem Schicksal verknüpft war.
Die Explosion schien für meinen Vater der endgültige Beweis dafür zu sein, dass die Dinge wohl doch so bleiben sollten, wie sie waren.
Friedrich lebte sich gut bei uns ein. Er war ein gesunder Sieben-Kilo-Kater, diagnostizierte der Tierarzt, und eine noch eigenständigere Katze, als Katzen es für gewöhnlich waren. Er starrte mich oft unentwegt an, ohne zu blinzeln, und fauchte dann, bis ich das Zimmer verließ. Ramona versuchte einmal, ihn auf ihren Schoß zu setzen. Er zerkratzte ihr die Arme und haute ihr die Pfote mehrfach ins Gesicht. Der Kater schnurrte nie und aß niemals unsere Reste, außer er hatte sie zuvor direkt vom Tisch erbeutet. Ließ man ein Getränk kurz unbeaufsichtigt stehen, trank er daraus, egal ob es Wasser, Kaffee, Bier oder Orangensaft war. Nie rührte er aber sein Schälchen an. Oft tötete er aus Gier sogar Krähen, die fast so groß waren wie er selbst. Er hatte nur zu Reiner eine gewisse Bindung. Ich habe ein paarmal belauscht, wie er mit Friedrich sprach. Der Kater antwortete stets kurz, aber klangvoll, obwohl er sonst niemals miaute, sondern bloß kratzte und biss, sobald ihm etwas missfiel, oder er beschallte mitten in der Nacht mit seinem aggressiv-hysterischem Kastratengesang die Nachbarschaft.
UNTER
Weitere Kostenlose Bücher