Das Schwert der Wahrheit 9: Die Magie der Erinnerung (German Edition)
keinesfalls so kunstvolle Behausungen wie die Zelte der kaiserlichen Entourage Jagangs, waren diese, an Armeemaßstäben gemessen, noch immer luxuriös. Die kleine Gruppe aus Kommandozelten stand auf einer Erhebung, die den Offizieren die Möglichkeit bot, den Rest des Feldlagers zu überblicken. Im Gegensatz zum Hauptlager der Armee gab es hier keinen Ring aus Wachposten, der die Elitetruppen und Offiziere vor den normalen Soldaten abschottete. Soeben wurden vor dem Hauptzelt große Fleischstücke an Spießen gegrillt, von Sklaven, wie sie den höherrangigen Offizieren oder Hohepriestern der Imperialen Ordnung stets zu Diensten waren. In einer Streitmacht wie dieser hatte man sicherlich nur die zuverlässigsten Sklaven mitgenommen.
Als sie schließlich Halt machten, bedeutete der Mann, der die Zügel von Niccis Pferd hielt, einem seiner Männer mit einem Kopfnicken, sie anzukündigen. Der Mann schwang ein Bein über den Hals seines Pferdes und sprang ab. Bei jedem seiner entschlossenen Schritte, mit denen er auf das Hauptzelt zuhielt, stieg Staub von seiner Hose auf.
Nicci bemerkte, dass von allen Seiten neugierige Soldaten herbeigeschlendert kamen, um die Frau in Augenschein zu nehmen, die ihrem Anführer als Geschenk überbracht wurde. Sie konnte sie lachen und untereinander scherzen hören, während sie sie mit lüsternen Blicken musterten – aus Augen, so kalt und Furcht einflößend, wie sie sie noch nie gesehen hatte.
Aber am meisten Sorgen bereitete ihr der Umstand, dass die meisten von ihnen Speere in den Händen hielten oder Pfeile in ihre Bogen eingespannt hatten. Das waren keine Krieger, die irgendetwas auf die leichte Schulter nahmen. Sogar während sie sie mit lüsternen Blicken musterten, waren sie auf jedwede Gefahr vorbereitet, die ihr Auftauchen mit sich bringen mochte.
Der Soldat, der losgeschickt worden war, ihr Eintreffen zu melden, wurde von einem Gehilfen ins Hauptzelt geführt. Einen Augenblick darauf kam er wieder zum Vorschein, gefolgt von einem hoch gewachsenen Soldaten in einem fließenden, hennarot gefärbten Gewand. Seine Art, sich zu kleiden, hob sich gegen den farblosen Hintergrund ab wie geronnenes Blut. Trotz der Hitze und Luftfeuchtigkeit trug er seine Kapuze zum Zeichen frommer Machtbefugnis würdevoll über den Kopf drapiert.
Gemessenen Schritts trat er bis an den Rand der Erhebung vor, bis in ihre unmittelbare Nähe, und nahm eine arrogante Haltung ein. Er nahm sich Zeit, sie ausgiebig zu betrachten – die Ware zu prüfen.
Der Soldat, der die Zügel ihres Pferdes hielt, verneigte sich im Sattel.
»Eine bescheidene Gabe von den Bewohnern der Stadt Altur’Rang«, erklärte er mit aufgesetzter Höflichkeit, worauf die Soldaten weit und breit leise lachten und untereinander Bemerkungen über die ganz speziellen Freuden austauschten, die Kronos von seinem Geschenk erwarten konnte. Neugierig, was vor sich ging, traten einige Offiziere aus den umliegenden Zelten.
Ein lüsternes Grinsen ging über Kronos’ Gesicht. »Schafft sie nach drinnen. Ich werde das Geschenk von seiner Verpackung befreien und einer genaueren Betrachtung unterziehen müssen.«
Das Gelächter der Soldaten schwoll an. Kronos’ Grinsen wurde breiter. Es freute ihn sichtlich, dass sie sein geistreicher Scherz so amüsierte.
Nicci empfand die Umstände ihrer Bekleidung als überaus peinigend, aber darin lag eben das Risiko, ein Risiko, das sie als unumgänglich angesehen hatte. Diese Soldaten waren Rohlinge, und ihre Notlage war genau nach ihrem Geschmack.
Bruder Kronos maß sie mit forschendem Blick, während er darauf wartete, dass sie hineingebracht wurde. Es war unmöglich, sich seinem unerschütterlichen Blick zu entziehen; sie ertappte sich dabei, wie sie in seine dunklen Augen starrte.
Immer mehr Soldaten umringten sie von allen Seiten.
Nicci wusste nur eins: Sie durfte auf keinen Fall zulassen, dass jemand sie vom Pferd riss. Es musste jetzt geschehen, sofort.
Tausend Dinge hätte sie Bruder Kronos an den Kopf schleudern wollen. Gern hätte sie ihm erklärt, was sie von ihm hielt, was sie mit ihm tun würde, was Richard mit der gesamten Imperialen Ordnung machen würde.
Ein rascher, einfacher Tod schien für diesen Mann zu simpel, sie wollte, dass er vor seinem Tod litt. Sie wollte, dass er in vollem Umfang begriff, was sie für ihn bereithielt, sie wollte, dass er es spürte, dass er sich vor Qualen und Schmerzen wand, dass er um Gnade winselte und den bitteren, galligen Geschmack der
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