Das Schwert der Wahrheit 9: Die Magie der Erinnerung (German Edition)
auch nicht glaubte, dass die Begebenheiten aus seinen Erzählungen sie übermäßig besorgt stimmten, schließlich erfreuten sie sich eines friedlichen, niemals von fremden Besuchern ihrer Heimat gestörten Daseins.
Sie selbst dagegen hatte ihrem Großvater stets geglaubt, daher hatte sie immer gewusst, dass die Fremden eines Tages kommen würden, doch wie die anderen auch hatte sie angenommen, dieses Ereignis würde irgendwann in ferner Zukunft stattfinden, wenn sie alt wäre vielleicht, oder mit ein wenig Glück erst in einer künftigen Generation.
Nur in ihren eher seltenen Albträumen kamen die Fremden nicht erst in ferner Zukunft, sondern schon in der Gegenwart.
Jetzt, da sie die Staubwolken aufsteigen sah, war ihr jenseits allen Zweifels klar, dass sie es waren und dass sie kamen – jetzt, in diesem Moment.
Sie hatte zeit ihres Lebens noch keinen Fremden zu Gesicht bekommen, niemand außer Jillians Volk durchstreifte jemals die unwirtlichen Landstriche dieser schier endlosen und abweisenden Gegend, die unter dem Namen Herz der Leere bekannt war.
Vor Angst zitternd starrte sie auf die Staubfahne am Horizont. Bald schon würde sie eine große Zahl Fremder sehen – die Fremden aus den alten Geschichten.
Aber es war noch zu früh, sie hatte doch noch gar kein Leben gehabt, hatte noch keine Gelegenheit gehabt, zu leben und Kinder zu gebären. Tränen traten ihr in die Augen, sodass plötzlich alles verschwamm. Sie warf einen Blick über die Schulter hinauf zu den Ruinen. War es das, dem sich die Menschen aus den Erzählungen ihres Großvaters gegenübergesehen hatten?
Die Tränen begannen ihr über die staubigen Wangen zu rollen. In diesem Moment wurde ihr klar, ohne auch nur den leisesten Hauch eines Zweifels klar, dass ihr Leben im Begriff war, sich zu verändern, und dass ihre Träume von nun an nicht mehr glücklich sein würden.
Hastig kletterte Jillian vom höchsten Punkt des Trümmerhaufens herunter, auf dem sie gestanden hatte, und rannte, vorbei an der Mauer und den verfallenen leeren Rechtecken der einstigen Häuser, den Gruben, über denen sich einst Gebäude erhoben hatten, den Hang hinunter. Als sie durch die Ruinen der Gemäuer rannte, die einst den Vorposten einer alten Stadt gebildet hatten, wirbelten ihre dahinfliegenden Füße selbst eine Staubwolke auf. Sie rannte durch Straßen, die längst nicht mehr durch buntes Treiben führten, an denen schon lange keine intakten Gebäude mehr standen.
Oft hatte sie sich vorzustellen versucht, wie es wohl gewesen sein mochte, als diese Häuser noch bewohnt waren, als die Straßen noch von Menschen bevölkert waren, in den Häusern Mahlzeiten zubereitet wurden, draußen vor den Ziegelbauten Wäsche hing und auf den Plätzen Waren feilgeboten wurden. All das war lange vorbei. Die einstigen Bewohner waren seit langem tot, die ganze Stadt ausgestorben – mit Ausnahme der wenigen aus Jillians Volk, die sich bisweilen in den abgelegensten der alten Gemäuer einquartierten.
Als sie sich den alten Gebäuden des Vorpostens näherte, die sie bewohnten, wenn sie den Sommer in diesem Gebiet verbrachten, sah Jillian Menschen, einander Kommandos zubrüllend, hektisch durcheinander laufen, sah sie ihre Sachen zusammensuchen und die Tiere zusammentreiben. Offenbar waren sie im Begriff weiterzuziehen, vielleicht zu ihrem Schlupfwinkel in den Bergen oder hinaus in das Ödland. Sie hatte ihr Volk dies nur wenige Male tun sehen, doch stets hatte sich die Gefahr als Irrtum entpuppt. Sie wusste, diesmal war sie Wirklichkeit.
Was sie nicht mit Sicherheit wusste, war, ob ihnen genug Zeit bliebe, vor den näher kommenden Fremden wegzulaufen und sich zu verstecken. Sicher, ihr Volk war widerstandsfähig und gut zu Fuß, die Menschen waren es gewöhnt, durch das verlassene Land zu ziehen. Ihr Großvater sagte immer, niemand sei für das Überleben in dieser Einsamkeit so gut gerüstet wie ihr Volk. Es kannte die Gebirgspässe und Wasserstellen ebenso wie die verborgenen Passagen durch scheinbar unpassierbare Cañons. Es konnte sich in dem unwirtlichen Land in kürzester Zeit unsichtbar machen und dort überleben.
Zumindest traf dies auf die meisten zu, einige wenige, wie ihr Großvater, waren nicht mehr gut zu Fuß.
Angesichts der neu aufkeimenden Sorge beschleunigten ihre Füße noch und flogen mit gleichmäßigem Tappen über den staubigen Boden. Im Näherkommen sah sie die Männer ihre Reiseausrüstungen auf den Maultieren festzurren, während die Frauen damit
Weitere Kostenlose Bücher