Das Schwert der Wahrheit 9: Die Magie der Erinnerung (German Edition)
beschäftigt waren, Kochutensilien zusammenzusuchen, Wasserbehälter aufzufüllen sowie Kleidungsstücke und Zelte aus ihren Sommerbehausungen und Vorratsräumen ins Freie zu tragen. All dies machte auf Jillian den Eindruck, als wären sie schon seit einer Weile über die anrückenden Fremden unterrichtet, denn die Vorbereitungen für den Aufbruch befanden sich im Allgemeinen schon in weit fortgeschrittenem Stadium.
»Ma!«, rief Jillian, als sie ihre Mutter beim Festzurren ihres Kessels auf einem bereits mit ihrem gesamten Hab und Gut bepackten Maultier erblickte. »Ma!«
Ihre Mutter zeigte ihr kurz ein Lächeln und streckte ihr beschützend einen Arm entgegen. Obwohl sie eigentlich schon zu alt für diese Dinge war, schmiegte sich Jillian unter den Arm wie ein junges Küken, das sich unter den Fittichen der Mutterhenne verkroch.
»Hol deine Sachen, Jillian.« Ihre Mutter machte eine scheuchende Handbewegung. »Beeil dich.«
Jillian war klug genug, in einem Augenblick wie diesem keine Fragen zu stellen. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und lief zu dem kleinen uralten rechteckigen Haus hinüber, das ihnen, wenn sie den Sommer in der Ebene nahe der Landzunge verbrachten, als Zuhause diente. Mitunter mussten die Männer die Dächer erneuern, wenn ein schweres Unwetter sie heruntergerissen hatte, aber davon abgesehen stimmten die Überreste der stabilen, gedrungenen Gebäude mit ebenjenen von ihren Vorvätern errichteten Gebäuden überein, welche die Stadt Caska einst oben auf der Landzunge erbaut und bevölkert hatten.
Ihr Großvater, ausgezehrt und blass, wie sie sich eher ein Gespenst vorstellte, wartete in den Schatten unmittelbar vor der Tür. Er hatte es nicht eilig. Sofort füllte ein Gefühl des Entsetzens ihre Brust, als ihr klar wurde, dass er sie nicht würde begleiten können. Er war alt und gebrechlich und, wie einige der anderen Alten auch, nicht mehr schnell genug, um mit den Übrigen im Falle einer Flucht Schritt halten zu können. Am Ausdruck seiner Augen sah sie, dass er nicht die Absicht hatte, es zu versuchen.
Sie ließ sich in die zärtlichen Arme ihres Großvaters sinken und brach, noch während er sie zu trösten versuchte, in Tränen aus.
»Ruhig, ganz ruhig, Kleines«, sagte er und strich ihr mit der Hand über das kurz geschorene Haar. »Dafür ist jetzt keine Zeit.«
Er fasste sie bei den Armen und schob sie sanft von sich, während sie sich größte Mühe gab, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Natürlich wusste sie, dass sie alt genug war und nicht mehr so herumheulen sollte, aber sie war einfach machtlos dagegen. Er ließ sich in die Hocke herunter, und sein ledriges Gesicht zog Falten, als er ihr lächelnd eine Träne aus dem Gesicht wischte.
Jillian wischte auch den Rest ihrer Tränen fort, sie versuchte, tapfer zu sein und sich ihrem Alter entsprechend zu benehmen. »Großvater, Lokey hat mir die Fremden gezeigt, die zu uns kommen.«
Er nickte. »Ich weiß, ich selbst habe ihn geschickt.«
»Oh«, war alles, was ihr dazu einfiel. Ihre Welt geriet aus den Fugen, das Denken bereitete ihr Mühe, aber irgendwo, in einem entlegenen Winkel ihres Verstandes, dämmerte ihr, dass er dergleichen noch nie getan hatte. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass er überhaupt dazu fähig war, aber wie sie ihren Großvater kannte, konnte es sie nicht wirklich überraschen.
»Hör zu, Jillian. Diese Männer, die auf dem Weg hierher sind, sind jene Männer, von deren Kommen ich dir immer erzählt habe. Wer kann, wird für eine Weile fortgehen und sich verstecken.«
»Wie lange?«
»So lange wie nötig. Diese Männer, die zu uns geritten kommen, sind nur eine kleine Vorhut jener gewaltigen Horden, die nach ihnen kommen werden.«
Ihre Augen weiteten sich. »Soll das heißen, es gibt noch mehr von diesen Leuten? Aber es sind doch schon so viele. Sie wirbeln mehr Staub auf, als ich je zuvor gesehen habe. Kann es wirklich noch mehr Fremde geben als diese Männer?«
Sein Lächeln war ebenso kurz wie bitter. »Ich vermute, sie stellen nur den Erkundungstrupp dar – die erste Vorhut aus Kundschaftern eines gewaltigen nachfolgenden Heeres. Sie kennen dieses weite, unbewohnte Land nicht, ich vermute, dass sie auf der Suche nach Strecken sind, auf denen es sich durchqueren lässt, und herausfinden wollen, ob sie irgendwo auf Widerstand stoßen. Ich fürchte, den Legenden zufolge wird die Zahl der Männer, für die sie dieses Land erkunden, sogar mein Vorstellungsvermögen übertreffen. Meiner
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