Das Schwert der Wahrheit 9: Die Magie der Erinnerung (German Edition)
Und doch ließ er sich von Wahrheit und Vernunft statt von Launenhaftigkeit oder Zufall lenken, noch handelte er willkürlich. Es war ihr ein Rätsel, wieso er innerhalb der Prophezeiungen das Chaos repräsentieren und dabei gleichzeitig vollkommen verstandesbetont handeln konnte.
Ann war sehr besorgt um Richard, denn diese gegensätzlichen Aspekte der mit der Gabe Gesegneten bildeten bisweilen den Auftakt zu wahnhaftem Verhalten. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten, war ein Anführer, der unter Wahnvorstellungen litt.
Doch all diese Überlegungen waren eher akademischer Natur. Die eigentliche Schwierigkeit bestand darin, einen Weg zu finden, der garantierte, dass er sich die ihm in den Prophezeiungen vorherbestimmten Ziele zu Eigen machte und seine Bestimmung erfüllte, solange noch Zeit war. Gelang ihnen dies nicht oder scheiterte er, dann war alles verloren.
Vernas Nachricht hatte sich wie ein todbringender Schatten über Anns innerste Gedanken gelegt.
Plötzlich tauchte Tom aus dem Dunkel auf. Er hatte ihr Licht gesehen und kam ihnen im hohen Gras entgegen. »Da seid Ihr ja«, begrüßte er Ann. »Nathan wird sich freuen, dass Ihr endlich hier seid. Kommt mit, ich zeige Euch den Weg.«
Nach dem flüchtigen Blick zu urteilen, den sie im trüben Licht der Laterne erhaschen konnte, schien sein Gesicht besorgt.
Der kräftige D’Haraner führte sie tiefer in das Friedhofsgelände, wo an bestimmten Stellen Reihen leicht erhöhter und mit Steinen eingefasster Gräber zu erkennen waren. Offenbar waren sie jüngeren Datums, denn ansonsten konnte Ann nur hohes Gras erkennen, das die Grabsteine sowie die Gräber, die sie markierten, mit der Zeit überwuchert hatte. An einer Stelle waren einige kleine Grabsteine aus Granit zu erkennen, die so verwittert waren, dass es sich nur um außerordentlich alte Gräber handeln konnte. Einige Grabstellen waren mit schlichten Holzkreuzen markiert, in die man Namen geritzt hatte. Die meisten dieser Gedenkzeichen waren längst zu Staub zerfallen, wodurch weite Teile des Friedhofs eher an ein grasbewachsenes Feld erinnerten.
»Weißt du, was das für fette Käfer sind, die unablässig diesen Lärm veranstalten?«, wandte sich Jennsen an Tom.
»Ich bin nicht sicher«, antwortete der. »Ich habe sie noch nie zu Gesicht bekommen. Aber sie scheinen plötzlich überall zu sein.«
Ann lächelte bei sich. »Es sind Zikaden.«
Jennsen warf ihr einen fragenden Blick zu.
»Zikaden. Du wirst sie bestimmt nicht kennen. Bei ihrer letzten Häutung dürftest du noch ein ganz kleines Mädchen gewesen sein und viel zu jung, um dich zu erinnern. Der Lebenszyklus dieser rotäugigen Zikaden beträgt siebzehn Jahre.«
»Siebzehn Jahre!«, rief Jennsen erstaunt. »Soll das heißen, sie kommen nur alle siebzehn Jahre zum Vorschein?«
»So ist es. Sobald sich die Weibchen mit diesen lärmenden Burschen gepaart haben, legen sie ihre Eier in den Ästen ab. Beim Schlüpfen lassen sich die Nymphen dann aus den Bäumen fallen und graben sich ein, um erst siebzehn Jahre später wieder zum Vorschein zu kommen und ihr kurzes Erwachsenendasein zu fristen.«
Erstaunt murmelten Jennsen und Tom etwas, dann setzten sie ihren Weg über das Friedhofsgelände fort. In dem Lichtschein, der aus Jennsens Laterne drang, vermochte Ann außer den Schatten der sich gelegentlich in der schwülwarmen Brise wiegenden Bäume kaum etwas zu erkennen. Während die drei lautlos über den Friedhof hasteten, hielt das unablässige Gezirpe der Zikaden in der Dunkelheit ringsumher unvermindert an. Ann versuchte mithilfe ihres Han in Erfahrung zu bringen, ob sonst noch jemand in der Nähe war, doch außer Tom sowie einer weiteren Person irgendwo etwas weiter vorn, zweifellos Nathan, vermochte sie niemanden zu entdecken. Da Jennsen zu den völlig von der Gabe Unbeleckten gehörte, war sie für Anns Han nicht zu erfühlen.
Wie Richard war auch Jennsen einst von Darken Rahl gezeugt worden. Ihre völlige Unbeflecktheit von der Gabe war ein ebenso überraschender wie unbeabsichtigter Nebeneffekt der Magie ebenjener Bande, die jeder mit der Gabe gesegnete Lord Rahl besaß. In früheren Zeiten, als dieses Wesensmerkmal sich zu verbreiten begann, hatte man die von der Gabe völlig Unbeleckten vertrieben und sie in ein vergessenes Land namens Bandakar verbannt. Anschließend hatte man alle nicht mit der Gabe gesegneten Nachkommen des jeweiligen Lord Rahl einfach umgebracht.
Obwohl Ann sich nun schon seit einiger Zeit unter diesen
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