Das Schwert der Wahrheit 9: Die Magie der Erinnerung (German Edition)
ihm zu distanzieren begannen, sobald er das Gespräch auf Kahlan brachte.
Von dem großen Fenster seines Zimmers im obersten Stock bot sich ihm drüben, auf der anderen Seite des Geländes unterhalb jenes Hangs, auf dem das Gasthaus stand, ein atemberaubender Blick auf Seele . Jetzt, da er den Docht der Lampe in seinem Zimmer heruntergedreht hatte, konnte er die weiße, von einem Kranz aus Fackeln in hohen eisernen Halterungen beschienene Marmorstatue mühelos erkennen, und seine Gedanken schweiften zu den unzähligen Malen ab, die er hier, auf ebendiesem Hang, gestanden und auf die Bauarbeiten an Kaiser Jagangs Palast hinabgeblickt hatte. Es war kaum vorstellbar, dass es dieselbe Welt gewesen sein sollte, er fühlte sich in ein völlig anderes, ihm unbekanntes Leben versetzt, dessen Regeln er nicht kannte. Mitunter fragte er sich, ob er nicht vielleicht doch auf dem besten Weg war, den Verstand zu verlieren.
Nicci, in ihrem Zimmer im unteren Stockwerk neben dem Eingang, konnte die Statue vermutlich gar nicht sehen, aber Cara, gleich nebenan, hatte bestimmt die gleiche Aussicht wie er. Er fragte sich, ob sie sie genoss, und wenn ja, wie sie über die Statue dachte, die sie dort drüben sah. Es war ihm ein völliges Rätsel, wieso sie sich nicht klar und deutlich erinnern konnte, was sie für ihn – und Kahlan – bedeutete. Er fragte sich, ob sie sich womöglich auch so fühlte, als sei sie in das Leben eines anderen geschlüpft …, oder ob sie glaubte, er verliere den Verstand.
Er konnte sich einfach nicht vorstellen, was passiert sein sollte, dass Kahlan aus der Erinnerung aller gelöscht worden war. Ursprünglich hatte er die vage Hoffnung gehegt, die Bewohner Altur’Rangs würden sich ihrer erinnern, und es wären nur jene betroffen, die sich bei ihrem Verschwinden in ihrer unmittelbaren Nähe befunden hatten. Diese Hoffnung hatte sich mittlerweile zerschlagen. Was immer der Grund sein mochte, das Phänomen war allgegenwärtig.
Richard lehnte sich an den Waschtisch mit dem darin eingelassenen Becken, legte den Kopf in den Nacken und schloss für einen Moment die Augen. Nacken und Schultern schmerzten vom tagelangen Tragen seines schweren Bündels auf dem beschwerlichen Fußmarsch durch den dichten und scheinbar endlosen Wald. Während des gesamten flotten und anstrengenden Marsches wäre schon eine kurze Unterhaltung über ihre Kräfte gegangen, meistens jedenfalls. Es war ein großartiges Gefühl, eine Weile nicht weitergehen zu müssen, auch wenn er, sobald er die Augen schloss, nichts als endlos vorüberziehende Wälder sah. Mit geschlossenen Augen hatte er das Gefühl, seine Beine bewegten sich noch immer.
Gähnend streifte er seinen Waffengurt über den Kopf und lehnte das Schwert der Wahrheit an einen gleich neben dem Waschtisch stehenden Stuhl, zog sein Hemd aus und warf es aufs Bett. Eigentlich, schoss es ihm durch den Kopf, wäre dies eine günstige Gelegenheit, einen Teil seiner Kleidung zu waschen, aber er war zu erschöpft. Er verspürte keinen anderen Wunsch mehr, als sich zu waschen und anschließend aufs Bett zu fallen und zu schlafen.
Während er sich mit einem seifigen Waschlappen zu säubern begann, trat er noch einmal hinüber ans Fenster. Vom unablässigen Zirpen der Zikaden abgesehen, war die Nacht totenstill. Er konnte nichts dagegen tun, sein Blick wurde wie magnetisch von der Statue angezogen, die so viel von Kahlans Wesen hatte, dass ihn eine tiefe Betrübtheit überkam. Er musste sich zwingen, nicht daran zu denken, welch schrecklichen Dingen sie womöglich ausgesetzt war, welche Schmerzen sie womöglich litt. Die Sorge schnürte ihm die Brust zusammen. Um seine Sorgen für eine Weile zu vergessen, versuchte er, sich ihr Lächeln in Erinnerung zu rufen, ihre grünen Augen, ihre Arme, wie sie sich um seinen Nacken legten, das leise Stöhnen, das sie manchmal von sich gab, wenn sie ihn küsste.
Er musste sie wieder finden – unbedingt.
Er tunkte den Waschlappen in das Wasser und wrang ihn aus, beobachtete, wie das schmutzige Wasser in das Becken zurücklief, und sah, dass seine Hände zitterten.
Er musste sie finden!
Schließlich unternahm er einen weiteren Versuch, sich abzulenken. Den Blick auf das Waschbecken gerichtet, betrachtete er ganz bewusst die rings um den Rand aufgemalten Ranken. Die Ranken waren blau, nicht grün, wahrscheinlich, damit sie zu den blauen, mittels Schablonen auf die Wände aufgetragenen Blumen, zu den blauen Blüten auf den einfachen Vorhängen und
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