Das Schwert des Liktors
Augenblick wagte ich zu hoffen, daß keiner von ihnen erwachte.
Im dunklen Schein der Klaue zeigte sich, daß das Gesicht des Mädchens noch viel eingefallener und grauenhafter war, als ich es am Tag gesehen hatte, indem er die Ringe unter den Augen und die hohlen Wangen stärker hervortreten ließ. Ich glaubte, etwas sagen, durch einen Spruch den Increatus und seine Mittler anrufen zu müssen, aber mein Mund war trocken und sprachloser als die Zunge eines Tieres. Langsam senkte ich die Hand zu ihr, bis ihr Schatten alles Licht, das auf es gefallen war, aussperrte. Als ich die Hand wieder hob, war keine Veränderung zu erkennen, wobei mir einfiel, daß die Klaue auch bei Jolenta nicht geholfen hatte, so daß ich mich fragte, ob sie bei Frauen nicht wirke oder es erforderlich sei, daß eine Frau sie hielte. Sodann berührte ich mit ihr die Stirn des Mädchen, wobei sie wie ein drittes Auge in dieser Totenfratze schien.
Von allen Einsätzen der Klaue war das der verblüffendste und vielleicht einzige, wo es ausgeschlossen war, daß eine Selbsttäuschung meinerseits oder irgendein – wenn auch noch so weit hergeholter – Zufall für das, was sich ereignete, verantwortlich sein konnten. Vielleicht war die Blutung des Menschenaffen durch seinen eigenen Glauben gestillt worden; vielleicht war der Ulan an der Straße beim Haus Absolut lediglich betäubt gewesen und wäre von selbst wieder aufgestanden; vielleicht war die augenscheinliche Heilung von Jonas’ Wunden nicht mehr als eine Sinnestäuschung im Ungewissen Licht gewesen.
Aber nun war mir, als hätte eine unvorstellbare Macht in der Zeitspanne zwischen zwei Chrononen gewirkt, um das Universum aus seiner Spur zu werfen. Die echten Augen des Mädchens, dunkel wie ein Teich, taten sich auf. Sein Gesicht war keine Totenmaske mehr, sondern das ermattete Gesicht einer jungen Dame. »Wer bist du in diesen hellen Kleidern?« fragte es. Und dann: »Oh, ich träume.«
Ich sagte ihr, ich sei ein Freund, und daß es sich nicht zu fürchten brauche.
»Ich fürchte mich nicht«, antwortete es. »Ich tät’s, war’ ich wach, aber das bin ich jetzt nicht. Du siehst aus, als wärst du vom Himmel gefallen, aber ich weiß, du bist nur die Schwinge eines armen Vogels. Hat Jader dich gefangen? Sing für mich …«
Es schloß wieder die Augen; nun konnte ich sein schwaches Atmen hören. Sein Gesicht blieb, wie es gewesen war, als es die Augen offen hatte – schmal und ermattet, aber nicht mehr vom Tode gezeichnet.
Ich nahm das Juwel von seiner Stirn und berührte damit das Auge des Knaben, wie ich die Stirn seiner Schwester berührt hatte, aber das war wohl überflüssig. Es erschien mir normal, bevor es den Kuß der Klaue überhaupt spürte, und vielleicht war die Entzündung schon zurückgegangen. Er regte sich im Schlaf und stieß einen Ruf aus, als liefe er im Traum einer Horde jüngerer Knaben voraus und ermunterte sie zum Nachkommen.
Ich steckte die Klaue wieder in ihr Säckchen und setzte mich zwischen den Hülsen und Schalen auf den Erdboden, um ihm zu lauschen. Nach einer Weile wurde er wieder still. Das Sternenlicht zeichnete schwache Muster in der Nähe der Tür; ansonsten war es in der Hütte stockfinster. Ich hörte das gleichmäßige Atmen von Bruder und Schwester.
Sie hatte gesagt, daß ich, der ich seit meiner Erhebung Schwarz und vorher graue Lumpen getragen hatte, mit hellen Gewändern bekleidet sei. Ich wußte, das helle Licht auf ihrer Stirn hatte sie geblendet, so daß ihr alles, jedes Gewand hell vorkommen mußte. Dennoch spürte ich, daß sie in gewisser Weise recht hatte. Daß ich seit jenem Moment meinen Mantel, meine Hosen und Stiefel haßte (wie ich zu schreiben versucht gewesen bin), dem war nicht so; vielmehr bekam ich gewissermaßen den Eindruck, sie seien tatsächlich die Verkleidung, wofür man sie im Palast des Archons gehalten hatte, oder das Kostüm, als das sie gewirkt hatten, als ich in Dr. Talos’ Spiel auftrat. Sogar ein Folterer ist nur ein Mensch, und es ist für einen Menschen nicht natürlich, sich stets und ausschließlich in der Farbe zu kleiden, die dunkler als schwarz ist. Ich hatte Verachtung empfunden für meine Heuchelei, als ich den braunen Mantel aus Agilus’ Laden getragen hatte; vielleicht war die schwarze Tracht darunter eine genauso große oder größere Heuchelei.
Dann drängte sich mir die Wahrheit auf. Falls ich je ein echter Folterer gewesen war, ein Folterer im Sinne eines Meister Gurloes oder auch eines
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