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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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hatte, und brauchte nicht erst überzusetzen; aber die Straßen waren mir fremd und wirkten in der Dunkelheit wie ein Labyrinth – dazu geschaffen, mich zu verwirren. Erst nach mehreren Fehlversuchen entdeckte ich die schmale Gasse, die zum Kliff emporführte.
    In den Behausungen links und rechts davon, worin es still gewesen war, solange man darauf wartete, daß die mächtige Mauer aus Stein auf der gegenüberliegenden Seite hinaufstiege, um die Sonne zu verdecken, waren nun murmelnde Stimmen vernehmbar, und aus einigen Fenstern leuchtete das Licht von Tranlampen. Während Abdiesus in seinem Palast darunter ein Fest gab, feierte auch das gemeine Volk der Hänge mit einer Ausgelassenheit, die sich hauptsächlich dadurch von der seinen unterschied, daß sie nicht so zügellos war. Ich vernahm Liebeslaute, wie ich sie auch in seinem Garten vernommen hatte, nachdem ich von Cyriaca geschieden war, und die Stimmen von Männern und Frauen in stillem Gespräch und hin und wieder auch neckisches Geschäker – hier wie dort. Den Palastgarten hatten seine Blumen mit Düften erfüllt, und seine Luft hatten die eigenen Springbrunnen und der große Springbrunnen Acis, der kalt daneben vorüberrauschte, geläutert; hier war von diesen Düften nichts mehr zu riechen; aber eine Brise blies über die Hütten und die Höhlen mit ihren zugestöpselten Mündern und trug bald den Gestank von Unflat, bald das Aroma frisch aufgebrühten Tees oder eines schlichten Schmorgerichts und manchmal nur die reine Gebirgsluft heran.
    Als ich hoch in die Felswand gestiegen war, wo keiner mehr wohnte, der reich genug wäre, sich mehr Licht als das des Küchenfeuers zu leisten, wandte ich mich um und blickte in die Stadt hinab, wie ich es auch am Nachmittag von den Zinnen der Burg Acies aus getan hatte – obgleich in einer ganz anderen Gemütsverfassung. Man sagt, es gibt im Gebirge so tiefe Spalten, daß man an ihrem Grund die Sterne sehen kann; Spalten, die also durch die ganze Welt reichen. Nun war mir, als wäre ich auf eine solche gestoßen. Ich hatte den Eindruck, in ein Sternbild zu schauen, wie wenn die ganze Urth abgefallen wäre und ich in einen gestirnten Schlund ausschaute.
    Wahrscheinlich suchte man bereits nach mir. Ich stellte mir vor, wie die Dimarchi des Archons durch die stillen Straßen galoppierten, vielleicht Fackeln aus dem Garten tragend. Viel schlimmer war der Gedanke, daß die Wärter, die ich bis jetzt kommandiert hatte, von den Vincula ausschwärmen würden. Dennoch sah ich keine ziehenden Lichter und hörte keine heiseren Rufe in der Ferne, und falls in den Vincula Unruhe ausgebrochen wäre, so war von dieser Störung in den düsteren Gassen, welche sich spinnwebartig über den Hang wanden, nichts zu merken. Es hätte auch einen blinkenden Lichtschein geben müssen, wo das große Tor sich öffnete, um die aus den Betten geholten Männer hinauszulassen – sich in einem fort öffnete und wieder schlösse; aber nichts dergleichen war zu erkennen. Schließlich wandte ich mich wieder um und stieg weiter hinauf. Man hatte noch nicht Alarm geschlagen – bald würde er jedoch ertönen.
    Es brannte kein Licht in der Lehmhütte, und es war darin nichts zu hören. Ich hatte die Klaue aus dem Säckchen genommen, ehe ich eintrat, denn ich befürchtete, dazu nicht mehr die Nerven zu haben, wäre ich erst drinnen. Bald funkelte sie gleich einem Feuerwerk wie im Gasthaus zu Saltus, bald war sie nicht heller als eine Glasscherbe. In jener Nacht in der Hütte strahlte sie nicht, sondern schimmerte in einem so tiefen Blau, daß das Licht selbst mir wie eine klarere Dunkelheit schien. Von allen Namen des Schlichters ist der am seltensten verwendete und mir stets rätselhafteste der Name ›Schwarze Sonne‹. Seit jener Nacht habe ich fast das Gefühl, ihn zu verstehen. Ich konnte das Juwel nicht mit den Fingern halten, wie ich es schon oft getan hatte und noch oft tun würde; ich legte es flach in meine rechte Hand, damit ich durch meine Berührung kein größeres Sakrileg beginge, als unvermeidlich war. Es so vor mir tragend, bückte ich mich und trat hinein in die Hütte.
    Das Mädchen lag noch, wo es am Nachmittag gelegen hatte. Falls es atmete, konnte ich’s nicht hören, und es bewegte sich nicht. Der Knabe mit dem entzündeten Auge schlief auf der bloßen Erde zu seinen Füßen. Er mußte mit dem Geld, das ich ihm geschenkt hatte, zu essen gekauft haben; Getreidehülsen und Obstschalen lagen auf dem Boden verstreut. Für einen

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