Das Schwert des Liktors
Abermillionen Toten, die in jenem Gewässer versenkt worden waren. Und wie wurden sie versenkt, Severian? Eine Leiche geht nicht unter. Wie beschwert man sie? Ich weiß es nicht. Weißt du’s?«
Ich wußte es. »Man füllt ihnen Bleischrot in den Hals.«
»Dacht’ ich’s mir doch.« Ihre Stimme war nun so schwach, daß ich sie kaum mehr hören konnte, obwohl es in dem Zimmerchen sehr still war. »Nein, ich wußte es. Ich wußte es, als ich sie sah.«
»Meinst du, die Klaue habe dich zurückgebracht?«
Dorcas nickte.
»Sie hat, das geb’ ich zu, manchmal gewirkt. Aber nur wenn ich sie herausgenommen habe, und selbst dann nicht immer. Als du mich im Garten des Endlosen Schlafes aus dem Wasser gezogen hast, ist sie in meiner Gürteltasche gewesen, und ich hab’ nicht einmal gewußt, daß ich sie besitze.«
»Severian, du hast sie mich einmal halten lassen. Könnt’ ich sie jetzt wiedersehn?«
Ich nahm sie aus ihrem weichen Futteral und hielt sie hoch. Das blaue Feuer schien zu schlummern. Aber ich konnte die grimmige Kralle in der Mitte des Juwels sehen, die ihm den Namen gegeben hatte. Dorcas streckte mir die Hand entgegen, aber ich schüttelte den Kopf, als ich daran dachte, was sie mit dem Weinglas gemacht hatte.
»Du glaubst, ich würde irgend etwas damit anrichten, nicht wahr? Das werd’ ich nicht, ’s war’ ein Sakrilegium.«
»Wenn du glaubst, was du sagst, und das tust du wohl, müßtest du sie hassen, weil sie dich zurückgeholt hat …«
»Vom Tod.« Wieder betrachtete sie die Decke und lächelte, als verbände sie ein großes, skurriles Geheimnis damit. »Sag’s schon! ’s wird dich nicht umbringen.«
»Vom Schlaf«, sagte ich. »Denn wenn man daraus zurückgerufen werden kann, ist es nicht der Tod – nicht der Tod, wie wir ihn verstehen, der Tod, wie wir ihn uns vorstellen, wenn wir Tod sagen. Obgleich ich, das gesteh’ ich offen, kaum glauben kann, daß der Schlichter, nun seit abertausend Jahren tot, mittels dieses Steins andere wiederauferstehen lassen soll.«
Dorcas gab keine Antwort. Ich konnte mir nicht einmal sicher sein, daß sie überhaupt zuhörte.
»Du hast Hildegrin erwähnt«, fuhr ich fort, »und davon gesprochen, wie er uns in seinem Kahn über den See zu den Avernen gerudert hat. Weißt du noch, was er über den Tod gesagt hat? Daß er nämlich ein guter Freund der Vögel sei. Vielleicht hätten wir damals wissen müssen, daß ein solcher Tod nicht der Tod, den wir uns darunter vorstellen, sein könnte.«
»Wenn ich dir sage, daß ich all das glaube, darf ich dann die Klaue in die Hand nehmen?«
Wieder schüttelte ich den Kopf.
Dorcas blickte nicht zu mir, sondern betrachtete wohl meinen tanzenden Schatten; vielleicht sah sie auch nur den Severian ihrer Phantasie an der Decke den Kopf schütteln. »Du hast ja recht – ich würd’ sie vernichten, wenn ich’s könnt’. Soll ich dir sagen, was ich wirklich glaube? Ich glaube, ich bin tot gewesen – nicht schlafend, sondern tot. Daß mein ganzes Leben sich vor langer, langer Zeit abspielte, als ich mit meinem Mann über einem kleinen Laden wohnte und mich um unser Kind kümmerte. Daß dieser dein Schlichter, der vor so langer Zeit erschien, ein Abenteurer von einer der alten Rassen, die den Tod des Universums überlebten, war.« Mit der Hand hielt sie krampfhaft das Betttuch fest. »Ich frage dich, Severian, wenn er wiederkommt, wird man ihn dann nicht die Neue Sonne heißen? Klingt das nicht wahrscheinlich? Und ich glaube, daß er bei seinem Kommen etwas mitgebracht hat, das Macht über die Zeit hat, wie auch Vater Inires Spiegel angeblich über Entfernungen gebieten. Es ist dieser Juwel, den du hast.«
Sie verstummte und wandte mir, dreist blickend, das Gesicht zu; da ich nichts sagte, fuhr sie fort: »Severian, als du den Ulanen wieder zum Leben erwecktest, geschah das, indem die Klaue für ihn die Zeit umkehrte bis zum Moment, wo er noch lebte. Als du die Wunden deines Freundes fast geheilt hast, geschah das, indem sie den Augenblick in einen späteren umwandelte, wo seine Wunden fast verheilt wären. Und als du im Garten des Endlosen Schlafes in den Teich fielst, mußte sie mich berührt oder fast berührt haben, so daß für mich die Zeit wiederkehrte, in der ich gelebt hatte, wodurch ich wieder Leben erlangte. Ich war lange Zeit tot gewesen – eine runzlige Leiche, die das braune Wasser konservierte. Und es ist etwas in mir, das noch immer tot ist.«
»Es ist in uns allen etwas, das immer tot bleibt«,
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