Das Schwert des Liktors
meiste Zeit wie Leichenaugen vor. Hast du noch nie in den Spiegel gesehn? Deine Augen sind nicht die Augen einer Toten.«
»Vielleicht nicht«, erwiderte Dorcas. »Du hast immer gesagt, sie seien schön.«
»Bist du nicht froh zu leben? Selbst wenn dein Mann tot, dein Kind tot und das Haus, in dem du gelebt hast, eine Ruine ist – falls all das wahr ist –, freust du dich denn nicht, wieder hier zu sein? Du bist kein Gespenst, kein zurückgekehrter Geist wie diejenigen, die wir in der verfallenen Stadt gesehen haben. Schau in den Spiegel, wie ich dir sagte! Oder schau wenigstens in das Gesicht eines Mannes und sieh, was du bist!«
Dorcas setzte sich noch langsamer und gequälter als beim Trinken des Weins auf, aber nun schwang sie die Beine über den Bettrand, und ich bemerkte, daß sie nackt unter der dünnen Decke war. Vor ihrer Krankheit war Jolentas Haut vollkommen gewesen – glatt und weich wie Zuckerguß. Dorcas’ Haut war mit goldenen Sommersprossen übersät, und sie war so schlank, daß ich stets ihre Knochen gespürt hatte, wenn ich sie beschlief; dennoch war sie mit ihren Makeln begehrenswerter als die wonnige Jolenta. Mich ihr aufzuzwingen oder auch nur in sie zu dringen, sich mir hinzugeben, wäre nun, da sie krank war und ich im Begriff stand, sie zu verlassen, zwar sträflich gewesen, dennoch spürte ich Verlangen nach ihr sich in mir regen. Wie sehr – oder wenig – ich eine Frau auch liebe, stets will ich sie dann am meisten, wenn ich sie nicht mehr haben kann. Was ich aber für Dorcas empfand, war stärker als das und komplexer. Sie war mir, wenn auch nur kurz, der engste Freund gewesen, den ich kannte, und unsere gegenseitige Inbesitznahme, von der wilden Leidenschaft in unserer umfunktionierten Rumpelkammer zu Nessus bis zu den ausgedehnten, mußevollen Tändeleien im Schlafgemach der Vincula, war ein bezeichnender Akt sowohl unserer Freundschaft als auch unserer Liebe.
»Du weinst ja«, stellte ich fest. »Soll ich gehn?«
Sie schüttelte den Kopf, woraufhin sie, als könnte sie die Worte, die gewaltsam hervorzubrechen schienen, nicht länger für sich behalten, flüsterte: »Ach, willst du nicht mitkommen, Severian? Ich hab’s nicht so gemeint. Willst du nicht mitgehn? Willst du nicht mit mir gehn?«
»Ich kann nicht.«
Sie sank auf das schmale Bett zurück, kleiner und kindlicher geworden. »Ich weiß. Du stehst im Dienst deiner Zunft. Du kannst sie nicht abermals verraten und dir noch in die Augen sehn, und ich werd’ dich nicht darum bitten. Es ist nur, daß ich die Hoffnung nicht ganz aufgegeben hab’, du kämst trotz allem mit.«
Wiederum schüttelte ich den Kopf. »Ich muß aus der Stadt fliehn …«
»Severian!«
»Und zwar gen Norden. Du ziehst südwärts, und wäre ich bei dir, hätten wir bald Kurierschiffe voller Soldaten auf den Fersen.«
»Severian, was ist passiert?« Dorcas’ Gesicht war ganz ruhig, aber sie machte große Augen.
»Ich hab’ ne Frau befreit. Sollte sie erwürgen und in den Acis werfen. Kein Problem – ich empfand nichts für sie, nicht wirklich, und es hätt’ mir nicht schwerfallen sollen. Aber als ich mit ihr allein war, dachte ich an Thecla. Wir waren in einem Sommerhäuschen, von Gebüsch verdeckt, am Flußufer. Ich hatte die Hände um ihren Hals und dachte an Thecla und wie ich sie hatte befreien wollen. Ich sah mich nicht imstande, es zu tun. Hab’ ich dir das je erzählt?«
Fast unmerklich schüttelte Dorcas den Kopf.
»Überall wimmelte es von Brüdern. Fünf wären auf dem kürzesten Weg zu passieren gewesen, und alle kannten mich und kannten sie.« (Thecla kreischte nun in irgendeinem Winkel meines Geistes.) »Ich hätte lediglich sagen brauchen, Meister Gurloes habe mir aufgetragen, sie zu ihm zu bringen. Aber dann hätte ich mit ihr gehn müssen, während ich noch nach einer Möglichkeit suchte, die mir gestattet hätte, trotzdem in der Zunft zu bleiben. Ich liebte sie nicht genug.«
»Nun ist’s vorbei«, meinte Dorcas. »Und, Severian, der Tod ist weniger schlimm, als du glaubst.« Wir hatten die Rollen vertauscht wie verirrte Kinder, die sich abwechselnd Mut zusprechen.
Ich zuckte die Achseln. Der Geist, den ich bei Vodalus’ Bankett verschlungen hatte, war fast wieder still; ich spürte ihre langen, kalten Finger an meinem Gehirn, und obwohl ich nicht in mich hineinsehen konnte, wußte ich, daß ihre tiefen, violetten Augen hinter den meinen lagen. Es bedurfter größer Anstrengung, nicht mit ihrer Stimme zu sprechen.
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