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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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das Gefühl, es sei dort ein anderer Severian gewesen – der gütige, ja edle Severian, der nur in Dorcas’ Vorstellung existierte. Wir alle sprechen wohl, wenn wir mit einem anderen vertraut zu reden glauben, in Wirklichkeit eine Vorstellung an, die wir von demjenigen haben, mit dem wir zu reden glauben. Aber das hier schien mehr zu sein; ich hatte das Gefühl, Dorcas würde sogar dann weitersprechen, wenn ich das Zimmer verließe. »Nein«, antwortete ich. »Vielleicht Wasser?«
    »Schleudersteine.«
    Ich dachte, das habe sie bildlich gemeint, und versetzte nur: »Wird recht unangenehm gewesen sein.«
    Wieder rollte sie den Kopf auf dem Kissen, und nun konnte ich ihre blauen Augen mit den weißen Pupillen sehen. So leer war ihr Blick, sie hätten zwei kleine Gespenster sein können. »Schleudersteine, mein liebster Severian. Schwere kleine Metallgeschosse – ein jedes ungefähr mit dem Durchmesser einer Nuß und knapp daumenlang und mit dem eingeprägten Wort triff. Sie kamen klirrend aus meiner Kehle und plumpsten in den Eimer, und ich griff hinein – mit der Hand hinein in die Brühe, die mit hochgekommen war, und fischte sie heraus, um sie mir anzusehn. Die Wirtin brachte den Eimer weg, aber ich hatte sie abgewischt und aufgehoben. Es sind zwei, und sie liegen nun in der Schublade dieses Tisches. Den brachte sie zum Essenabstellen herein. Willst du sie sehen? Mach ihn auf!«
    Ich hatte keine Ahnung, was sie da plapperte, und fragte, ob ihres Wissens jemand sie vergiften wolle.
    »Nein, ganz und gar nicht. Willst du die Schublade nicht öffnen? Was bist du mutig. Willst du nicht nachsehn?«
    »Ich glaube dir. Wenn du sagst, es sind Schleudersteine in der Schublade, dann sind bestimmt welche drin.«
    »Aber du glaubst nicht, daß ich sie ausgespuckt habe. Ich kann’s dir nicht verübeln. Gibt es nicht eine Geschichte von der Tochter eines Jägers, die von einem Parden verwunschen worden ist, so daß Gagatperlen aus ihrem Mund gekullert sind, wenn sie gesprochen hat? Und dann hat ihre Schwägerin ihr den Zauber gestohlen, so daß beim Sprechen Kröten aus ihrem Mund hüpften? Ich hab’ sie schon einmal gehört, sie aber nie geglaubt.«
    »Wie soll das gehen – Blei spucken?«
    Dorcas lachte, aber es war keine Heiterkeit darin. »Einfach, ganz einfach. Weißt du, was ich heut’ gesehn hab’? Weißt du, warum ich nicht hab’ sprechen können, als du mich gefunden hast? Und ich konnte wirklich nicht, Severian, das schwöre ich! Ich weiß, du hast geglaubt, ich sei halt wütend und dickköpfig gewesen. Das war ich aber nicht – ich war wie versteinert, sprachlos, denn mir schien alles egal. Und ich bin mir noch nicht im klaren, ob dem nicht so ist. Allerdings tut es mir leid, was ich vorhin gesagt hab’ von wegen Mut. Du bist mutig, das weiß ich. Es ist nur, daß es offenbar nicht von Mut zeugt, was du mit den armen Gefangenen hier treibst. Du warst so mutig, als du gegen Agilus kämpftest, und später, als du gegen Baldanders kämpfen wolltest, weil wir dachten, er würde Jolenta umbringen …«
    Wieder verstummte sie und seufzte dann. »O Severian, ich bin so müde.«
    »Darüber wollte ich mit dir reden«, knüpfte ich an. »Über die Gefangenen. Du sollst mich verstehen, selbst wenn du’s mir nicht nachsehen kannst. Es war mein Beruf, das, wofür ich von Kindheit an ausgebildet worden war.« Ich beugte mich vor und nahm ihre Hand; sie wirkte so zart und zerbrechlich wie ein Singvogel.
    »Du hast schon einmal davon gesprochen. Ehrlich, ich versteh’s.«
    »Und ich war gut darin. Das, Dorcas, verstehst du nicht. Folter und Hinrichtung sind eine Kunst, und ich habe das Gespür und die Begabung dafür, bin dazu begnadet. Dieses Schwert – alle Werkzeuge, die wir gebrauchen, werden lebendig, liegen sie in meiner Hand. Wäre ich in der Zitadelle geblieben, wäre ich eines Tages vielleicht Meister geworden. Hörst du mir zu, Dorcas? Liegt dir daran überhaupt etwas?«
    »Ja«, erwiderte sie. »Ein bißchen. Aber jetzt hab’ ich doch Durst. Wenn du fertig getrunken hast, schenk mir bitte ein wenig Wein ein.«
    Ich kam ihrem Wunsch nach und füllte das Glas nur zu einem Viertel, damit sie nicht das Bettzeug besudele.
    Sie setzte sich zum Trinken auf, was ich ihr angesichts ihrer Mattigkeit gar nicht zugetraut hätte, und als sie den letzten scharlachroten Tropfen geschluckt hatte, schleuderte sie das Glas zum Fenster hinaus. Ich hörte es unten auf der Straße zerschellen.
    »Du sollst nicht nach mir

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