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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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ihre Plätze gekettet, und die Stärkeren würden die Schwächeren stützen – keiner, so hoffte ich, würde ertrinken. Die Wärter am Eingang würden ihren Posten verlassen und über den steilen Trampelpfad zum Grat emporeilen, um nachzusehen, wer an ihrem dortigen Reservoir hantiert hätte.
    Als das letzte Wasser abfloß, hörte ich die Steine, die ihre Füße losgerissen hatten, über den Hang rollen. Ich schloß das Schleusentor wieder und kroch in den glitschigen, fast senkrechten Kanal, durch den soeben das Wasser geströmt war. Dort wäre ich viel besser vorangekommen, hätte ich nicht Terminus Est mitschleppen müssen.
    Um mich mit dem Rücken gegen diesen krummen, schornsteinartigen Schacht stemmen zu können, mußte ich das Gehenk lösen; dennoch hatte ich keine Hand zum Halten der Waffe frei. Ich legte mir seinen Gurt um den Hals und ließ Klinge und Scheide nach unten baumeln, während ich mich so gut es ging voranarbeitete. Zweimal glitt ich aus, aber jedesmal rettete mich eine Krümmung im enger werdenden Abflußkanal; es war so viel Zeit verstrichen, daß ich sicher sein konnte, die Wärter wären zurückgekehrt, als ich endlich roten Fackelschein sah und die Klaue hervorholte.
    Nie wieder sollte ich sie so hell erstrahlen sehen. Ihr Licht blendete mich, und als ich sie hoch erhoben durch den langen Tunnel der Vincula trug, konnte ich mich nur wundern, daß meine Hand nicht zu Asche zerfiel. Mich hat, glaube ich, kein Gefangener gesehn. Die Klaue schlug sie in ihren Bann wie eine Laterne bei Nacht das Wild des Waldes; regungslos standen sie da, mit offenem Mund, das gerötete, bärtige Gesicht nach oben gekehrt, scharf umrissene, pechschwarze, wie in Metall geschnittene Schatten hinter sich werfend.
    Am Ende des Tunnels, wo das Wasser in die lange, schräge Kloake floß, die es unter den Capulus führte, befanden sich die schwerkranken, gebrechlichsten und siechsten Gefangenen; und es war dort, wo ich am offenkundigsten die Kraft sah, die die Klaue ihnen verlieh. Männer und Frauen, die nicht mehr aufrecht gestanden hatten, solange sich die ältesten Wärter zurückerinnern konnten, wirkten nun groß und stark. Ich winkte ihnen zum Gruß, was aber bestimmt keiner von ihnen bemerkte. Sodann steckte ich die Klaue des Schlichters wieder in ihr Beutelchen, und es senkte sich über uns eine Nacht, neben der die Nacht auf Urth wie der helle Tag erscheinen mußte.
    Der Wasserschwall hatte die Kloake reingespült, und diese zu durchsteigen war einfacher als beim Schacht vorhin, denn ihr Gefälle war geringer, so daß ich mit dem Kopf voran hinabkriechen konnte. Ganz unten befand sich ein Fanggitter; wie ich aber bei einem meiner Inspektionsgänge festgestellt hatte, war es fast durchgerostet.
     

 
In die Berge
     
    Der Frühling hatte sich geneigt, und der Sommer zog ins Land, als ich mich in der Morgendämmerung vom Capulus fortschlich, dennoch wurde es nie warm in den Bergen, außer wenn die Sonne am höchsten stand. Trotzdem wagte ich es nicht, die Täler aufzusuchen, in die sich die Dörfer duckten, und schritt den ganzen Tag bergan, den Mantel um eine Schulter gerafft, um ihn möglichst wie ein Eklektikergewand aussehen zu lassen. Außerdem zerlegte ich die Klinge von Terminus Est und fügte sie ohne Parierstange wieder zusammen, damit das Schwert in der Scheide aus der Ferne wie ein Stock wirke.
    Gegen Mittag war der Boden felsig und so zerklüftet, daß ich genauso viel klettern wie gehen mußte. Zweimal bemerkte ich tief unter mir blitzende Harnische und beobachtete kleine Gruppen von Dimarchi, die über Trampelpfade kanterten (welche die meisten Männer nicht freiwillig zu Fuß beschritten hätten), so daß ihre scharlachroten Militärmäntel nur so flatterten. Ich fand keine eßbaren Pflanzen und sichtete kein anderes Wild als hoch kreisende Raubvögel. Selbst wenn ich welches gesehen hätte, wär’s mir kaum gelungen, es mit dem Schwert zu erlegen, und eine andere Waffe besaß ich nicht.
    All das klingt schlimm genug, in Wahrheit jedoch war ich fasziniert von der Bergwelt, diesem weiten Panorama des Reichs der Lüfte. Als Kind wissen wir eine Szenerie nicht zu schätzen, weil sich unserer Vorstellung noch keine ähnlichen Szenen mit den dazugehörigen Emotionen und Umständen eingeprägt haben, so daß wir ohne psychische Tiefe wahrnehmen. Als ich nun die wolkenbekrönten Gipfel betrachtete, hatte ich vor mir auch das Bild von Nessus, vom Matachin-Turm aus gesehen, und das Bild von Thrax, von

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