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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Dorcas abgetreten. Zuletzt entschied ich mich für den scharlachroten Domino, den sie und ich im Schlamm der steinernen Stadt gefunden hatten, lange bevor wir in Thrax ankamen. Er war schmutzig und so dünn, daß er nicht viel Wärme spenden konnte, ich hoffte aber, daß an den Quasten und der prachtvollen Farbe mein Gönner, der mich gespeist hatte, Gefallen fände.
    Ich habe nie ganz verstanden, wie er dorthin gekommen ist, wo wir ihn gefunden haben, oder ob der sonderbare Mensch, der uns zu sich gerufen hat, um für eine kurze Weile wieder Leben zu erlangen, ihn absichtlich oder zufällig zurückgelassen hat, als der Regen ihn abermals zu jenem Staub hat zerfallen lassen, der er so lange gewesen ist. Die alte Schwesternschaft der Priesterinnen verfügt zweifelsohne über Mächte, die sie selten oder nie gebraucht, und man darf durchaus annehmen, daß das Erwecken von den Toten dazu gehört. Ist dem so, hat er sie vielleicht herbeigerufen, wie er uns herbeigerufen hat, und der Domino ist versehentlich zurückgeblieben.
    Doch selbst wenn dem so ist, mag damit einer höheren Gewalt gedient worden sein. Auf diese Weise erklären denn die meisten Gelehrten den scheinbaren Widerspruch, daß wir zwar den freien Willen hätten, uns für das eine oder andre zu entscheiden, ein Verbrechen zu begehen oder durch angewandte Nächstenliebe den seligmachenden Unterschied des Empyreums zu stiebitzen, der Increatus aber dennoch über alles herrsche und ihm von jenen, die gehorchen, gleichermaßen (das heißt ganz) gedient werde wie von jenen, die sich auflehnen.
    Nicht nur das. Manche, deren Darlegungen ich im braunen Buch gelesen und mehrmals mit Thecla durchgesprochen habe, meinen, daß dort, ihn schauend, eine Vielzahl von Wesen weile, die zwar winzig erscheinen – ja unendlich winzig –, aber vergleichsweise groß sind in den Augen der Menschen, auf die ihr Herr so gigantisch wirkt, daß er unsichtbar ist. (Durch seine grenzenlose Größe wird er so winzig, daß wir im Verhältnis zu ihm jenen gleichen, die über einen Kontinent wandern, jedoch nur Wälder, Sümpfe, Sanddünen und so weiter sehen und sich, obgleich sie ein drückendes Steinchen im Schuh spüren mögen, nie überlegen, daß das Land, das sie ihr Lebtag lang übersehen haben, da ist und mit ihnen zieht.)
    Andere Gelehrte wiederum zweifeln an der Existenz dieser Macht, welcher diese Heerscharen angeblich dienen, beteuern aber nichtsdestoweniger, daß letztere existieren. Ihre Versicherungen beruhen indes nicht auf menschlichem Zeugnis – wovon es viel gibt und dem ich mein eigenes hinzufüge, denn ich habe ein solches Wesen im Buch mit den spiegelnden Seiten in Vater Inires Gelaß gesehen –, sondern auf unwiderlegbarer Theorie, behaupten sie doch, falls das Universum nicht erschaffen worden sei (was sie aus Gründen, die nicht ganz in der Philosophie beheimatet sind, gern abstreiten), dann müsse es bis heute seit ewig existiert haben. Und sei sie ohne Anbeginn, reiche die Zeit vom heutigen Tag endlos weit zurück und hätten in diesem grenzenlosen Zeitmeer alle denkbaren Dinge notgedrungen vergehen müssen. Nun sind solche Wesen wie diese dienstbaren Geister denkbar, denn sie und viele andere haben sie in ihrem Denken erfaßt. Wenn jedoch ein so mächtiges Wesen je ins Dasein gekommen ist, wie sollte es dann ausgelöscht worden sein? Also gibt es sie noch.
    Anhand dieses widersprüchlichen Wissens wird somit deutlich, daß man an die Existenz von Ylem, dem Urquell aller Dinge, nicht, an die Existenz seiner Diener aber dennoch glauben kann.
    Und da es solche Wesen sicherlich gibt, wäre es dann nicht möglich, daß sie sich einmischen (wenn man das als Einmischung bezeichnen könnte) in unsere Geschicke mittels solcher Zufälle wie dem scharlachroten Domino, den ich in der Klause zurückgelassen habe? Es erfordert keine grenzenlose Macht, um sich in den inneren Ablauf eines Ameisenbaus einzumischen – ein Kind kann’s mit einem Stock aufwühlen. Ich kenne keinen Gedanken, der mich schrecklicher anmutet. (Der Gedanke an meinen Tod, der dem Volksglauben nach über alle Maßen schrecklich und somit unvorstellbar sein werde, grämt mich wenig. Es ist mein Leben, an das ich, vielleicht aufgrund meines vollkommenen Gedächtnisses, nicht denken kann.)
    Und es gibt noch eine Erklärung: Es mag sein, daß all jene, die der Theophanie zu dienen trachten, und vielleicht sogar all jene, die vorgeben, ihr zu dienen, obgleich sie den Anschein erwecken, sehr streitbar zu

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