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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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sein und gar einen Kleinkrieg gegeneinander angingen, miteinander verkettet sind wie die Marionetten des Knaben und des Holzmännchens, die ich einst im Traum gesehen habe, und die, wenn auch offensichtlich gegeneinander kämpfend, nichtsdestoweniger in einer einzigen Hand gewesen sind, welche die Fäden von beiden geführt hat. Wenn dem so wäre, dann mag der Schamane, den wir gesehen haben, der Freund und Verbündete jener Priesterinnen gewesen sein, die, ihre Zivilisation so tief durchdringend, dasselbe Land durchwandern, wo er in primitiver Wildheit mit der strengen Liturgie von Trommel und Rassel einst im kleinen Tempel der steinernen Stadt geopfert hat.
    Nachdem ich die Nacht in der Schäfersklause verbracht hatte, gelangte ich im letzten Licht des nächsten Tages zum See namens Diuturna. Es war dieser gewesen, dachte ich, und nicht des Meer, den ich am Horizont gesehen hatte, bevor Typhon mich in seinen Bann schlug – falls meine Begegnung mit Typhon und Piaton kein visionärer Traum gewesen war, aus dem ich in meiner Not an der Stelle, wo ich ihn begonnen hatte, erwachte. Freilich ist der See Diuturna fast ein Meer, ist er doch ob seiner Größe für den Geist unermeßlich – und es ist schließlich der Geist, der die von dieser Welt ausgehende Resonanz erzeugt –; ohne ihn wäre hier nur ein Stück Urth, von brackigem Wasser bedeckt. Obwohl dieser See bedeutend höher als der Meeresspiegel liegt, habe ich fast den ganzen Nachmittag gebraucht, um hinab zu seinem Ufer zu gelangen.
    Diese Wanderung ist ein erstaunliches Erlebnis gewesen, das ich noch heute als vielleicht schönstes Andenken hege, obgleich mein Gedächtnis reich ist von Erlebnissen mit so vielen Männern und Frauen, denn bei diesem Abstieg bin ich durchs Jahr gewandert. Als ich die Klause verließ, hatte ich links, rechts und hinter mir die gewaltigen Schneefelder, worin, kälter noch als das Eis, dunkle Felsen aufragten, zugige Felshänge, auf denen der Schnee keinen Halt fand und so hinabgeweht wurde zu den weichen Matten, die ich überquerte, worauf das zarteste Frühlingsgras gedieh. Allmählich wurde das Gras derber und sein Grün geiler. Das Gezirpe und Gesumme von Insekten (das ich nur bemerkte, wenn ich es eine Zeitlang gehört habe) setzte wieder ein und erinnerte mich an das Stimmen der Instrumente im Blauen Saal vor der ersten Kantilene, dem ich manchmal, auf meiner Pritsche vor dem offenen Fenster des Lehrlingsschlafsaals liegend, gelauscht hatte.
    Büsche, die trotz ihres drahtigen Wuchses nicht in den Höhen, wo das feine Gras stand, auszuharren vermochten, traten nun in Erscheinung; als ich sie mir aber näher besah, stellte ich fest, daß es sich gar nicht um Buschwerk, sondern um Bäume handelte, die ich mit mächtigen Wipfeln in Erinnerung hatte, die hier aber ob des kurzen Sommers und strengen Winters arg geschnitten und durch diese Unbilden oft zu kahlen, darbenden Stämmchen verkümmert waren. In einem dieser Zwergbäume entdeckte ich das Nest einer Drossel, des ersten Vogels, den ich seit langem gesehen hatte, die kreisenden Räuber der Berge ausgenommen. Eine Meile tiefer vernahm ich die Pfiffe der Meerschweinchen, die ihre Höhlen in die steinigen Hänge gegraben hatten und die scheckigen Köpfchen mit den scharfen, schwarzen Augen in die Höhe streckten, um ihre Artgenossen vor meinem Nahen zu warnen.
    Noch eine Meile weiter unten floh hakenschlagend ein Hase vor mir, die fliegende Astara fürchtend, die ich nicht besaß. Ich stieg nun immer rascher ab, wobei ich gewahr wurde, wieviel Kraft mich nicht nur Hunger und Durst, sondern auch die dünne Höhenluft gekostet hatten. Mir war, als hätte mich eine zweite Krankheit befallen, von der ich nichts geahnt hatte, bis die wiederkehrenden Bäume und echten Büsche sie heilten.
    Vom neuen Standort aus bot sich der See nicht mehr als dunstig blaue Linie dar; ich sah ihn als eine immense, fast zeichnungslose Fläche stählernen Wassers, hie und da mit Schiffen gesprenkelt, die hauptsächlich aus Schilf geflochten waren, wie ich noch erfahren sollte. An sein Ufer schmiegte sich am Ende einer Bucht ein hübsches, kleines Dorf, das nur ein kurzes Stück rechts von meiner gegenwärtigen Marschrichtung lag.
    Genauso wie ich meine Schwäche erst erkannt hatte, als ich die Boote und die geschwungenen Strohdächer sah, so hatte ich auch nicht erkannt, wie einsam ich mich seit dem Tode des Knaben fühlte. Es ist wohl nicht bloß Einsamkeit gewesen, glaube ich. Ich habe nie ein

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