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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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mehr wie ein stählerner Finger gegen meine Brust – bei meiner Bergwanderung hatte ich oft sogar längere Zeit ganz darauf vergessen und erschrocken nach ihr gegriffen, als sie mir wieder einfiel, glaubte ich doch, sie verloren zu haben. In dieser niedrigen, rechteckigen Stube des Hetmans, wo die runden Mauersteine sich wie feiste Bürger Mann an Mann den Bauch zu wärmen schienen, strahlte sie nicht wie in der Hütte des einäugigen Knaben; aber sie war auch nicht tot wie bei Typhon, als ich sie ihm gezeigt hatte. Nun glomm sie eher, und ich konnte mir fast vorstellen, wie ihre Energien mein Gesicht umspielten. Das halbmondförmige Kernstück war nie deutlicher zum Vorschein getreten, und obgleich es dunkel war, leuchtete es.
    Ich steckte die Klaue schließlich wieder weg, ein wenig beschämt, mit einem solch innig verehrten Ding gespielt zu haben, als wäre es nur Tand. Ich nahm das braune Buch hervor und hätte darin gelesen, hätt’ ich’s vermocht; aber obgleich sich mein Fieber offenbar gelegt hatte, war ich noch sehr matt, und im flackernden Feuerschein begannen die engen, altertümlichen Buchstaben auf den Seiten zu tanzen, so daß die Geschichte, die ich aufgeschlagen hatte, mir bald wie blanker Unsinn, bald wie auf mich gemünzt vorkam – von endlosen Reisen handelnd, von der Grausamkeit der Masse und strömendem Blut. Einmal glaubte ich, Agias Namen zu sehen, aber beim zweiten Lesen wurde daraus das Wort agil: »Agia, wie sie war, sprang sie abermals und drehte die Säulen des Schildes …«
    Die Seite war zwar hell ausgeleuchtet, aber unentzifferbar wie ein Spiegelbild auf stillem Wasser. Ich schloß das Buch und steckte es in die Gürteltasche zurück – unsicher, ob ich die Wörter, die ich vorhin zu lesen glaubte, überhaupt gesehen hätte. Agia mußte tatsächlich vom Strohdach des Hauses von Casdoe gesprungen sein. Gewiß hatte sie Agilus’ Hinrichtung in Mord verdreht. Die große Schildkröte, die der Sage nach die Welt trägt und somit das All verkörpert, ohne dessen geordnete Unrast wir ein einsamer Wanderer im Weltraum wären, hat in grauer Vorzeit angeblich die inzwischen verschollene Universalregel offenbart, die einem die Gewißheit des stets richtigen Handelns gegeben hat. Ihr Rückenschild hat das Himmelszelt dargestellt, ihre Brustplatte die Ebenen aller Welten. Die Säulen des Schilds wären die Heere des Theologumenons, schrecklich und blitzend …
    Dennoch war ich mir nicht sicher, irgend etwas davon gelesen zu haben, und als ich das Buch abermals hervorholte und die Seite suchte, fand ich sie nicht mehr. Obgleich ich wußte, meine Verwirrung rühre nur von meiner Erschöpfung her, überkam mich die Furcht, die mich stets packte, wenn ich mir durch irgendeinen kleinen Vorfall des beginnenden Wahnsinns bewußt wurde. Während ich ins Feuer starrte, schien es zutreffender, als mir lieb war, daß eines Tages, vielleicht durch einen Schlag auf den Kopf, vielleicht ohne erkennbaren Anlaß, meine Phantasie und meine Vernunft den Platz tauschen könnten – gleichsam wie zwei Freunde, die tagtäglich zur gleichen Bank in einem öffentlichen Park kämen, schließlich beschlössen, zur Abwechslung die Bank zu tauschen. Dann sähe ich wie in Wirklichkeit all die Truggebilde meines Geistes und gewahrte so verschwommen, wie wir unsere Ängste und Ambitionen erfassen, die Menschen und Dinge der tatsächlichen Welt. Diese Gedanken an dieser Stelle meiner Erzählung müssen wie eine Vorhersage anmuten; rechtfertigen kann ich sie nur mit dem Hinweis, daß ich, von meinem Gedächtnis gemartert, sehr oft solche Überlegungen angestellt habe.
    Ein zaghaftes Klopfen an der Tür beschloß mein grausiges Grübeln. Ich schlüpfte in die Stiefel und rief: »Herein!«
    Jemand, der wohlweislich außer Sicht bleiben wollte, obschon ich mir recht sicher war, daß es sich um den Hetman handelte, stieß die Tür auf; herein trat eine junge Frau mit einem Servierbrett aus Messing, das mit allerlei Speisen beladen war. Erst als sie es abstellte, bemerkte ich, daß sie nackt war bis auf plumpen Metallschmuck, wie ich zunächst dachte, und erst als sie sich verneigte und die Hände in der nordischen Art zum Haupt hob, erkannte ich, daß die glänzenden Bänder, die ich für Armreifen gehalten hatte, tatsächlich Schellen aus gehärtetem Eisen waren, die eine lange Kette verband.
    »Euer Abendessen, Großmeister«, sagte sie und ging rückwärts zur Tür, gegen die sie sich drückte. Mit einer Hand wollte sie die

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