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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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ihn am hellichten Tag zu vergessen vermochte, indem ich ihn sozusagen aus meinem Bewußtsein verdrängte, das von der Sorge über auftauchende oder ausbleibende Soldaten und den abertausend herrlichen Eindrücken von Gipfeln, Sturzbächen und tiefeingeschnittenen Tälern, die mich ringsum begleiteten, mit Beschlag belegt wurde, kehrte er des Nachts zurück, wenn ich, in Decke und Mantel eingewickelt und von Fieber geschüttelt, glaubte, seine weichen Tritte und scharrenden Klauen zu hören.
    Wenn die Welt, wie oft gesagt wird, einer planmäßigen Ordnung unterworfen ist (ob nun vor ihrer Erschaffung ersonnen oder in den Milliarden Äonen ihrer Geschichte mit der unerbittlichen Logik von Ordnung und Wachstum abgeleitet, das bleibt sich gleich), dann müssen in allen Dingen sowohl die höhere Glorie miniaturhaft vertreten als auch das Mindere vergrößert dargestellt sein. Um von meiner kreisenden Aufmerksamkeit die greuliche Erinnerung daran fernzuhalten/habe ich hin und wieder versucht, mein Denken auf jene naturbedingte Anlage des Alzabos zu richten, die ihm ermöglicht, sich Gedächtnis und Willen eines Menschen einzuverleiben. Die Parallele zum Minderen bereitete mir keine Schwierigkeit. Der Alzabo ließe sich mit gewissen Insekten vergleichen, die sich mit Zweigen und Grashalmen bedecken, um von ihren Feinden nicht erkannt zu werden. So gesehen handelt es sich nicht um Täuschung – die Zweige und Blattreste sind echt vorhanden. Dennoch steckt das Insekt darunter. So verhält es sich auch mit dem Alzabo. Als Becan, aus dem Munde der Kreatur sprechend, mir gesagt hatte, er wolle sein Weib und seinen Knaben bei sich, glaubte er, seinen eigenen Wunsch vorzutragen, den er dann auch äußerte; dennoch hatte dieser Wunsch zum Zweck, den Alzabo satt zu machen, der dahintersteckte, dessen Bedürfnisse und Bewußtsein sich hinter Becans Stimme verbargen.
    Den Alzabo einer höheren Wahrheit beizuordnen, war, was mich nicht verwunderte, ungleich schwieriger; aber schließlich kam ich zum Schluß, er ließe sich mit der Inbesitznahme der materiellen Welt durch das Denken und Handeln der Menschen vergleichen, die, obzwar längst tot, sie so geprägt haben mit ihren Taten, die wir im weiteren Sinne Kunstwerke nennen können, seien es nun Bauwerke, Lieder, Schlachten oder Forschungsreisen, daß sie über den Tod hinaus gewissermaßen weiterleben. Auf gleiche Weise schlug das Kind Severa dem Alzabo vor, er möge den Tisch in Casdoes Haus verrücken, um auf den Dachboden zu gelangen, obgleich das Kind Severa nicht mehr war.
    Nun stand mir Thecla beratend zur Seite, wobei ich mir hierbei freilich nicht viel erhoffte und sie mir nur wenig Rat geben konnte; sie war jedoch oft vor den Gefahren der Berge gewarnt worden und trieb mich auf und voran, bergab, unablässig bergab in die warmen Täler beim ersten Tageslicht.
    Ich verspürte keinen Hunger mehr, denn der Hunger legt sich, wenn man eine Zeitlang nichts mehr ißt. Statt dessen überfiel mich Schwäche, die eine urtümliche Geistesklarheit mit sich brachte. Dann stieß ich am Abend des zweites Tages nach meinem Abstieg von der Pupille des rechten Auges auf die Steinklause eines Schäfers, worin ich einen Kochtopf und etwas gemahlenen Mais vorfand.
    Ein Gebirgsbach war nur ein paar Schritte weit entfernt, aber Brennholz war keins vorhanden. Also sammelte ich bei Dämmerung an einer Felswand, die eine halbe Meile entfernt lag, verlassene Vogelnester, schlug an diesem Abend mit der Angel von Terminus Est Feuer, kochte das derbe Mahl (was recht lange dauerte wegen der Höhe) und verzehrte es. Selten hat mir etwas besser gemundet, zumal es unverkennbar nach Honig geschmeckt hat, als wäre der Nektar der Pflanze im gedörrten Korn erhalten geblieben, wie das Salz der Meere, deren sich nur noch die Urth selbst entsinnt, im Kern gewisser Steine erhalten ist.
    Ich war entschlossen, für das, was ich gegessen hatte, zu bezahlen, und durchsuchte meine Gürteltasche, um dem Schäfer etwas von mindestens gleichem Wert zurückzulassen. Von Theclas braunem Buch wollte ich mich nicht trennen; mein Gewissen besänftigte ich, indem ich mir vor Augen führte, daß der Hirt wohl gar nicht lesen könne. Auch von meinem entzweigebrochenen Wetzstein wollte ich nicht lassen – weil er mich zum einen an den grünen Mann erinnerte und weil er zum andern eine plumpe Gabe wäre, wo hier doch Steine von fast gleicher Güte überall im jungen Gras lagen. Geld besaß ich nicht, denn ich hatte alles an

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