Das Schwert des Sehers
genähert hatte, auch wenn das eigentlich ganz unmöglich war.
»Weil ich es kann.« Er drehte sich um. Er glaubte zu spüren, wie sehr der Abt in den letzten Jahren gealtert war, obwohl er den immer weißer werdenden Bart, das immer dünnere Greisenhaar und die Linien auf dem Gesicht nur aus den Erzählungen der Schüler kannte. Aber er vermeinte, das Alter des Abtes an dessen Bewegungen zu fühlen – oder vielleicht lag es auch nur daran, dass er selbst jeden Tag besser wurde.
»Nutzt es dir im Kampf?«
»Wer weiß?«, gab Dauras zurück. »Jede Möglichkeit, seinen Körper zu beherrschen, kann im Kampf nützlich sein.«
Sie hatten nur wenige Worte gewechselt in diesen letzten Jahren. Es gab überhaupt wenig, was Dauras mit den Lehrern noch zu bereden hatte. Mitunter maß er sich mit den Meistern, doch das war eine langweilige Demonstration seiner Überlegenheit geworden.
Es gab Tage, da fragte sich Dauras, warum er überhaupt im Kloster blieb. Worauf wartete er? Aber er kannte kein anderes Leben, und so unzufrieden er auch war: Der Weg des Schwertes respektierte den Willen des Einzelnen, und auch wenn er noch so wortkarg war im Umgang mit den Brüdern, ließ das Kloster ihm Raum, den eigenen Weg zu gehen.
Er wandte sich dem Abt zu, der immer noch auf der Veranda stand.
»Wollt Ihr mir noch eine Lektion erteilen?«, fragte er. »Oder mir endlich eine Aufgabe geben? Ich kann Schüler unterrichten. Ich bin der beste Kämpfer des Klosters, und es ist eine Schande, dass ich meine Fertigkeiten nicht weitergeben darf.«
»Wer hat es dir verboten?«, fragte der Abt.
Dauras schnaubte. »Ihr wisst genau, wie es ist. Welcher Schüler würde bei mir lernen wollen, solange ich auf diese Weise abseits stehe und die Meister mich mit Missachtung strafen?«
»Niemand straft dich. Du bist einfach noch nicht so weit«, sagte der Abt. »Du beherrschst den Schwertkampf – aber kannst du wirklich lehren, was du beherrschst?«
»Warum sollte ich es schlechter lehren können, als jene Meister , die mir unterlegen sind? Ich habe deren Kunst studiert, und ich habe eine Kunst entwickelt, um sie zu besiegen. Ich könnte beides an die Schüler weitergeben.«
»Was bleibt von deiner Kampfkunst, wenn du deine speziellen Gaben verlierst?«
»Was meint Ihr?«, fragte Dauras zurück. »Was bleibt von Eurer Kampfkunst, wenn Ihr Eure Arme und Eure Beine verliert und wenn Ihr so langsam werdet wie eine Raupe? Wir alle kämpfen mit dem, was wir gelernt haben, und mit den Kräften, die unser Körper mitbringt.«
»Nun«, sagte der Abt. »Und mit unseren Sinnen. Komm, Dauras, kämpf mit mir.«
Er hob den Arm. Ein Priester eilte herbei und reichte ihm sein Schwert – es war die heilige Klinge des Ordens, das Symbol des Tempels. Sie wurde nur selten im Kampf geführt und nur bei rituellen Anlässen hervorgeholt. Dauras konnte sie nicht sehen, aber sie warf einen mächtigen Schatten in seinem Geist.
Was der Abt auch vorhatte – das heilige Schwert würde ihm jedenfalls nicht helfen, Dauras zu besiegen.
Dauras wollte zurück auf die Veranda treten und in den Übungssaal. Stattdessen stieg der Abt zu ihm herab.
»Hier, im Garten der Formen?«, fragte Dauras überrascht.
»Warum nicht?«, fragte der Abt. »Bist du nicht der meisterhafteste Kämpfer unseres Ordens? Wenn jemand so behutsam durch den Garten springen kann, dass nicht ein Zweig geknickt wird und nichts aus der Form gerät, dann du, nicht wahr?«
»Wenn Ihr wünscht, Meister.«
Sie nahmen die Grundstellung ein. Dauras bewegte sich so leicht zwischen Steinen und Sträuchern wie der Wind, der sich hinter die Mauern des Klosters verirrte. Wenn er es wollte, knirschte kaum ein Kiesel unter seinen bloßen Füßen. Der Abt dagegen bewegte sich plump und langsam, noch unbeholfener, als Dauras es von ihrem letzten Kampf her in Erinnerung hatte.
Er war selbst überrascht, wie sehr es ihn schmerzte. Das war der Meister aller Meister des Klosters, und doch hatte Dauras das Gefühl, als würde er allein durch den Garten tanzen. Er setzte seine Klinge, wo immer es ihm beliebte.
Doch Dauras empfand keinen Triumph dabei. Der Garten der Formen kam ihm leer vor und leblos, und er ertappte sich dabei, wie seine Gedanken abschweiften.
Sie hielten inne. Weder Dauras noch der Abt atmeten rascher nach der kleinen Übung.
Der Abt hob wieder eine Hand. »Und jetzt«, sagte er, »wollen wir sehen, was von meiner Kampfkunst bleibt, wenn ich auf einen meiner Sinne verzichte.«
Der
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