Das Schwert des Sehers
Priester brachte ein schmales Tuch, und der Abt verband sich die Augen. Dauras runzelte die Stirn. Was sollte das beweisen? Der alte Mann war doch mit all seinen Sinnen schon unterlegen gewesen.
»Weiter«, sagte der Abt, und Dauras begann erneut.
Er hielt sich zurück und ließ auch den Abt einmal angreifen. Dessen Klinge stieß immer genau dorthin, wo Dauras längst nicht mehr war. Er wehrte sie mit einem seiner beiden Schwerter ab und traf mit dem zweiten. Der Abt parierte, aber Dauras fand die Lücken in den Bildern des Abtes wie in dem früheren Kampf Jahre zuvor.
Wieder hielten sie inne.
»Wie war dieser Kampf.«
Dauras suchte nach höflichen Worten. »Hm, Ihr habt Euch gut gehalten.«
Der Abt lachte. »So gut, wie man sich gegen dich nur halten kann, meinst du.«
»Ja«, sagte Dauras. »So ähnlich. Es macht keinen Unterschied. Verzeiht, Meister, aber ich habe das Gefühl, es macht schon seit Langem keinen Unterschied mehr. Gegen wen ich kämpfe, wie gut oder wie schlecht er sich hält.«
»Sehen wir, ob es einen Unterschied macht«, sagte der Abt. Wieder hob er die Hand, und der Priester brachte ihm noch etwas. Dauras hatte Mühe, die winzigen Gegenstände auf der Handfläche des Mannes zu erkennen. Aber als der Abt sie sich in die Ohren steckte, kam Dauras zu dem Schluss, dass es sich um Wachspfropfen handelte.
Sie kämpften ein drittes Mal. Dauras verstand den Sinn nicht, er setzte seine Hiebe nur halbherzig. Doch er war überrascht, wie sicher der Abt sich bewegte – taub und blind, griff er Dauras weiterhin an, und auch wenn er weder treffen noch parieren konnte, schlug er nach wie vor in die richtige Richtung und wich geschickt allen Hindernissen in dem Garten aus.
Andererseits, Dauras selbst trug jeden seiner Kämpfe ohne Augen aus, und auch die Ohren benötigte er nicht dafür. Warum sollte er den Abt bewundern, wenn dieser einen Schatten jener Fähigkeiten zeigte, die für Dauras ganz selbstverständlich waren?
Sie hielten wieder inne. Der Abt atmete schneller. Er legte die Augenbinde ab und nestelte die Pfropfen aus den Ohren. Dann reichte er beides an den Priester zurück.
»Hast du nun einen Unterschied bemerkt?«, fragte er Dauras.
Der zuckte die Achseln. »Ihr kämpft gut mit verbundenen Augen«, räumte er ein. »Wenn man bedenkt, dass Ihr nicht daran gewöhnt seid. Was für eine Fähigkeit nutzt Ihr?«
Dauras hörte das Lächeln in der Stimme des Abtes. »Ich versuche, die Welt mit meinem Geist zu sehen. Vielleicht ein wenig so, wie du es ständig tust. Aber es ist eine Kunst, die ich erlernt habe, nichts, was ich von Anfang an eingebracht hätte.«
»Wollt Ihr mir erzählen, dass eine Fähigkeit mehr wert ist, wenn sie erlernt wurde, als wenn sie angeboren ist? Nun, Ihrkönnt lernen, so viel Ihr wollt, Ihr werdet doch niemals so gut darin, wie ich es schon bin. Wenn Ihr mir also den Wert des Lernens nahebringen wolltet, dann habt Ihr ein schlechtes Beispiel gewählt.«
»Wir hatten nicht über das Lernen geredet, sondern über das Lehren«, sagte der Abt. »Du hattest mich gefragt, warum ich dich für einen schlechteren Lehrer halte als jene Meister, die dir unterlegen sind. Du hast die Antwort selbst gegeben: Wie willst du etwas lernen, wenn du selbst nie erfahren hast, wie man es lernt?
Ohne meine Augen, ohne mein Gehör bin ich weit hilfloser als du. Doch alles, was ich dann noch zuwege bringe, habe ich mir mühsam angeeignet. Ich habe einen Weg zurückgelegt, und nun kenne ich diesen Weg und kann andere führen.«
»Meine Sinne sind mir angeboren«, sagte Dauras. »Aber den Schwertkampf habe ich gelernt. Also kann ich ihn anderen beibringen.«
Der Abt seufzte. »Dreimal haben wir heute miteinander gekämpft. Hast du einen Unterschied bemerkt? Hast du mich leichter besiegt, als ich Augen und Ohren verschlossen hatte?«
»Leichter als mühelos geht nicht«, sagte Dauras. »Wie sollte ich einen Unterschied bemerken?«
»Und das ist die Frage«, erwiderte der Abt. »Es gibt gewiss einen Unterschied, ob ich mit allen meinen Sinnen kämpfe oder taub und blind. Und doch bleibt etwas, was ich in allen drei Fällen beherrsche, und das ist meine Kampfkunst. Das, was unabhängig ist von all dem, was ich von Natur aus bereits ins Kloster mitgebracht habe. Und das ist es auch, was ich einem jeden Schüler beibringen kann, gleichgültig, was die Natur ihm mit auf den Weg gegeben hat.
Ich frage dich also noch einmal, Dauras: Was bleibt von deiner Kampfkunst, wenn man alles
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