Das Schwert des Sehers
Abtes. »Das ist es eben. Dein Kampfstil hat die Bilder niemals hinter sich gelassen, er ist bei ihnen stehen geblieben. Du hast nichts als Spiegel-Bilder erschaffen, einen Kampfstil, der nur darauf abzielt, den Stil des Klosters zu kontern.
Aber die Bilder des Klosters führen uns in die Welt hinaus. Selbst die Schüler, die wir nur in den niedrigen Klassen unterrichten und die dann fortgehen und zu gewöhnlichen Kriegern werden, sie haben mehr gelernt, als nur mit ihren Mitbrüdern zu tanzen. Jedes Bild gibt ihnen eine Antwort auf die Gefahren der Welt, jedes Bild ist offen, sodass der Schüler es mit der Erfahrung aus hundert Schlachten verbinden und seinen ganz eigenen Weg darin finden kann.
Haben deine Bilder eine Antwort auf das Chaos der Welt?«
Dauras schnaubte. »Die Menschen außerhalb des Tempels sind ohne Bedeutung. Sie sind ohnehin zu langsam. Ich besiege sie nach Belieben. Die besten Kämpfer im Tempel sind die Einzigen, die …« Dauras rang die Hände. Ihm fehlten die Worte, um auszudrücken, wie er die Welt wahrnahm. »Die sich überhaupt bewegen .«
Der Abt hob das Schwert vor die Brust und verneigte sich vor Dauras. »Es tut mir leid, Dauras, wenn mein Rat dich in die falsche Richtung geführt hat. Wir alle haben unsere Schwächen und müssen hart an ihnen arbeiten. Der Kampf ist deine Stärke. Und ich habe die Befürchtung, was sonst zum Weg des Schwertes gehört – das übersiehst du einfach!«
Das war es also! Am Ende warf man ihm wieder vor, dass er angeblich »blind« war. Obwohl er bewiesen hatte, dass die Augen für einen Priester des Schwertes überhaupt keine Rolle spielten.
»Was wollt Ihr damit sagen?« Seine Stimme wurde laut und zornig. Er konnte nichts dagegen tun. »An welchen Schwächen soll ich denn arbeiten? Tauge ich nicht zum Priester, weil ich die Schriften in der Bibliothek nicht lesen kann? Soll ich etwa daran arbeiten ?«
»Es wäre ein Anfang«, erwiderte der Abt ungerührt. »Deine Augen lassen dich nicht lesen. Aber du hast gemeinsam mit den anderen Schülern den Unterweisungen der Lehrer gelauscht, wenn diese aus den Schriften vortrugen. Du hattest die Möglichkeit, viele Texte mit deinen Ohren zu studieren … und doch habe ich nicht gehört, dass du dabei denselben Eifer gezeigt hättest wie auf dem Kampfplatz.«
»Ich habe sehr wohl zugehört, wenn die Lehrer aus den Schriften vorgelesen haben.« Dauras spie die Worte hervor. »Sie sprachen davon, dass wir die Vollendung in der Kampfkunst suchen. Dass derjenige, der seinen Körper und seine Waffe vollkommen beherrscht, der eins wird mit dem Schwert, auch eins werden kann mit allem im Universum. Und beherrsche ich meine Waffen nicht vollkommener als alle anderen hier? Habe ich nicht gezeigt, wie ich die ganze Kampfkunst des Klosters überwunden habe?
Ich habe Meister-Bilder erschaffen! Und ich glaube, ihr seid blind. Ihr alle! Weil ihr nicht sehen wollt.«
»Was wollen wir nicht sehen, Dauras?«, fragte der Abt sanft.
»Dass ich euch besiegt habe. Dass ich schon als Schüler auf dem Weg des Schwertes weiter gekommen bin als alle Meister. Ihr wollt einfach nicht sehen, wer ich wirklich bin!«
Mit 21 stand Dauras auf dem Dach des lang gezogenen Übungsgebäudes, drei Manneslängen über dem Boden. Unter ihm lag der sorgfältig geharkte Innenhof. Er nahm die Steine wahr, die im Hof runde und eckige Muster bildeten, die zugeschnittenen Bäume und Büsche mit ihren geometrischen Formen. Die Linien im Kies waren zu fein, als dass er sie hätte wahrnehmen können. Er hätte sie mit den Fingern ertasten müssen, um sie zu erfassen.
Er trat an die Kante, in jeder Hand ein schmales Schwert und die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt wie Flügel. Er ging in die Knie, stieß sich kraftvoll ab und sprang mit einem Überschlag in die Tiefe. Die hölzerne Veranda vor dem Gebäude raste auf ihn zu. Nach einem doppelten Salto um eine Achse, die von den ausgestreckten Schwertern gebildet wurde, kam Dauras sauber auf den Füßen auf. Er federte in den Beinen, um den Aufprall mit seinen Muskeln abzufangen, bevor der Stoß in seine Hüften oder in seine Wirbelsäule durchschlagen konnte. Dann schnellte er wieder hoch, schlug aus bloßem Übermut einen Salto aus dem Stand und landete formvollendet auf dem Kies vor der Veranda. Dann senkte er langsam die Arme.
»Warum hast du das getan?«
Die Stimme des Abtes ertönte überraschend hinter ihm, und Dauras zuckte zusammen. Er hatte nicht bemerkt, wie der Abt sich
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