Das Schwert des Sehers
Schwertes, der uns zur Wahrheit führen soll, dich möglicherweise von dort weggeführt. Weil du auf einer anderen Seite stehst als wir, hättest du von Beginn an in eine andere Richtung gehen müssen als in jene, in die unser Weg zielt.«
Der Abt seufzte in tiefer Traurigkeit.
»Und wenn das so ist, wäre es meine Schuld, und ich muss dich um Vergebung bitten. Wisse, Dauras, ich will dich nicht aufhalten. Du hast eine Gabe, du bist auserwählt – und es bricht mir das Herz, wenn ich zusehe, wie du das erreichen kannst, wovon unser Orden seit Jahrhunderten träumt, aber anscheinend einfach nicht sehen kannst … nicht innehalten …«
Der Abt stammelte, und die Worte, mit denen er sonst so geschickt umging, schienen ihn mit einem Mal im Stich zu lassen. Jetzt war er wirklich nur noch ein alter Mann, undDauras fragte sich plötzlich, warum er überhaupt je so viel Wert auf dessen Urteil gelegt hatte.
»In jedem Fall hast du recht«, ergriff der Abt wieder das Wort. »Du kannst hier im Kloster nichts mehr lernen.«
Dauras nickte.
»Du wirst es also verlassen«, sagte der Abt.
»Was?« Nie hatte er den Abstand zwischen sich und den Mönchen deutlicher gespürt als heute. Dennoch trafen die Worte des Abtes ihn wie ein Schlag. »Ihr wollt mich des Klosters verweisen?«
»Ich verweise dich nicht«, sagte der Abt. »Aber du kannst hier nichts mehr lernen, und dennoch gibt es etwas, das du noch erreichen musst. Wir setzen dich nicht vor die Tür. Dennoch wirst du uns verlassen, weil du schon zu lange herumsitzt und auf etwas wartest, was nicht zu dir kommen wird.
Du musst gehen und danach suchen, und ich wünsche dir, dass die Welt dich sehen lässt, was wir dir nicht zeigen konnten.«
Dauras wurde bewusst, dass der Abt recht hatte, wenn auch auf andere Weise, als er glaubte. Dauras konnte im Kloster nichts mehr erreichen. Aber die Welt wartete auf ihn. Er würde den Meistern beweisen, dass es keine Herausforderung dort gab, der er nicht gewachsen war, dass er sehr wohl in der Lage war, dieser körperlichen Schattenwelt seinen Willen aufzuzwingen, mit der Klinge seines Schwertes.
Denn er war ein Meister des Schwertes, der größte seines Ordens. Nach allem, was er im Kloster gelernt hatte, sollte der Orden ihm folgen …
Soll die Welt euch sehen lassen, was ihr einfach nicht erkennen wollt , dachte Dauras.
»Ihr werdet von mir hören«, sagte Dauras.
»Das werden wir«, antwortete der Abt.
D ie Gegenwart
Meris studierte die Akten. Sie verstand nun, warum man niemals versucht hatte, Dauras anzuwerben. Er hatte den Tempel verlassen, weil er sich für eine Art Messias des Schwertkultes hielt, und weil seine Brüder diesen Anspruch nicht anerkannten. Doch ob er sich nun als einen Gott sah oder als einen Heiligen – niemand konnte erwarten, dass er dem Kaiser diente oder irgendeinem anderen Herrn.
Dieser Dauras war jemand, dem jeder vernünftige Mensch lieber aus dem Weg ging.
Nachdem er das Kloster verlassen hatte, war er eine Zeit lang den Fluss hinauf- und hinuntergezogen auf der Suche nach Herausforderungen. Er hatte sogar eine bewaffnete Pilgerfahrt nach Esgarth unternommen, wie alle abenteuerlustigen Heißsporne es taten, um die Schrecken Gotors an der Quelle zu bekämpfen. Anders als die meisten war Dauras unbeschadet zurückgekehrt, auch wenn er seither ein wenig ruhiger wirkte.
Zuletzt, so ging es aus den Akten hervor, hatte er sich in den Dörfern und Städten im Umkreis der Hauptstadt herumgetrieben. Er trank viel und verdiente seinen Lebensunterhalt, indem er Steckbriefe mit seinem eigenen Antlitz darauf verteilte und die Kopfgeldjäger erschlug und ausplünderte, die dadurch ihren Weg zu ihm fanden und dumm genug waren, ihn herauszufordern. Das klang nach einem traurigen Ende für eine legendäre Sagengestalt.
Meris überlegte, was ihr das alles über den Mann verriet.
Zu Beginn seiner Reise hatte er darauf geachtet, dass seine Taten sich herumsprachen, dass sein Name stets genannt wurde. Anscheinend hatte er weiterhin versucht, seine ehemaligen Mitbrüder davon zu überzeugen, dass er der Auserwählte war, dass seine Kampfkunst jedes menschliche Maßüberstieg und dass sie ihm Unrecht getan hatten, als sie ihm diese Ehre verweigerten.
In den letzten Jahren hatte man weniger von ihm gehört. Doch das lag vielleicht nur daran, dass ihm die Herausforderungen ausgegangen waren, dass er nichts zu tun fand, was der Erwähnung wert gewesen wäre, verglichen mit dem, was er bereits
Weitere Kostenlose Bücher