Das Schwert des Sehers
stehen. Über ihnen knisterten die Zweige in einem Wind, von dem Aruda nichts spürte. Siehörte Dauras’ Atemzüge, und ihr war zumute, als hätte man sie in ein schwarzes Nichts geschleudert.
»Wir müssen umkehren«, sagte sie, vielleicht nur, um ihre Stimme zu hören.
»Ich weiß nicht«, sagte Dauras. »Ich denke nach.«
»Worüber?«, fragte Aruda.
»Über Euch, Prinzessin«, gab Dauras zurück. »Was mache ich mit Euch, wenn ich umkehre? Ich könnte Euch verlieren, anstatt die Botin zu holen.«
»Hast du nicht gesagt, das wären die Sorgen von kleineren Leuten?«, fragte Aruda. »Ich kann auch allein weiterreiten. Ich muss nur so schnell sein, dass diese Schurken mich nicht einholen können.«
»Womöglich hatten sie Zeit genug, um weiter vorn an der Straße einen Hinterhalt vorzubereiten. Außerdem können wir nicht die Pferde wechseln, wie die Botin es vorgeschlagen hat. Ihr werdet nicht in ein paar Stunden bis in die Hauptstadt durchreiten können.«
»Dann nimm mich mit«, sagte Aruda. »Du hast mich immer gut beschützt. Ich vertraue dir.«
Dauras lachte. »Dafür würde die Botin Euch ordentlich den Kopf waschen. Aber ich kann Euch nicht beschützen, wenn ich zurückreite. Ihr habt ja keine Ahnung, wie knapp es beim letzten Mal war.«
»Was ist eigentlich geschehen?«
»Ich weiß es nicht«, gab Dauras zurück. »Kennt Ihr Euch aus mit Heilkunde?«
»Was?«, fragte Aruda entsetzt. »Nein! Bist du verletzt? Deine Hand …«
»Es geht schon«, beschwichtigte Dauras. »Sie haben auf uns geschossen. Keine Ahnung, womit. Die Geschosse waren so klein, dass ich sie kaum wahrnehmen konnte. Und sehr schnell. Ich konnte ihnen selbst kaum ausweichen. Einsmusste ich mit der Hand abfangen, sonst hätte es Euch den Kopf zerschmettert.«
»Was ist mit der Hand?« Aruda tastete am Pferderücken entlang. »Vielleicht ist eine Lampe in der Satteltasche.«
Dauras fasste ihre Hand und hielt sie fest. »Kein Licht«, sagte er. »Ich sehe genug. Meine Hand kommt wieder in Ordnung. Das Geschoss hätte mir fast die Knochen zertrümmert, aber nur fast. Ich habe so viel von dem Schwung abgefedert, wie ich nur konnte, und der Rest war einfach Glück. Eine Prellung. Wenn ich den Handschuh ausziehe, fürchte ich, wird die Hand anschwellen wie eine Bärenpranke. Doch sie wird heilen.«
Aruda schwieg. Es lag an ihr, sie brachte ihre Begleiter in Gefahr. Meris war ihretwegen den Feinden in die Hände gefallen, und jetzt macht es den Anschein, als müsste Dauras zwischen ihrem Leben wählen und dem der Botin.
Hol Meris zurück – ich schlage mich schon durch.
Das wollte sie sagen. Aber sie konnte sich nicht dazu durchringen. Sie hatte Angst. Und hatte Dauras ihr nicht versprochen, dass er keine Entscheidungen traf, sondern dass er alles erreichen konnte?
Sie versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen und sein Gesicht zu sehen. Etwas darin zu lesen, was ihr Hoffnung gab.
Dauras seufzte. »Hier zu warten, macht es jedenfalls nicht besser. Wir müssen zuschlagen, solange es dunkel ist, sonst verlieren wir unseren letzten Vorteil. Das ist mein Plan:
Ihr reitet in einem weiten Bogen um das Gasthaus herum und nähert Euch von Norden. Wenn Ihr Euch dicht am Waldrand haltet, können sie Euch nicht so leicht sehen.
Ich schleiche mich derweil an, hole die Botin und gehe mit ihr dorthin, wo du wartest. Uns bleibt noch ein Viertel einer Nachtwache, bevor das Licht uns verrät. Nutzen wir die Zeit.«
»Danke«, sagte Aruda.
»Danke wofür?«, fragte Dauras. »Dass ich Euch in Gefahr bringe? Die Botin wird es mir nicht danken.«
»Dafür, dass du niemanden zurücklässt. Ich hatte nicht damit gerechnet. Ich meine, die bei den Soldaten …«
»Die Soldaten waren mir gleichgültig«, erwiderte Dauras. »Ich mochte sie nicht einmal.«
25.10.962 – WIEDER IM GASTHAUS ZUM HALBMOND
D ie Krieger brachten Meris auf den Hof hinaus, der sich zwischen dem Haupthaus und den Nebengebäuden erstreckte. Sie hängten sie mit den Füßen an einen Balken, der aus dem Dach hervorragte und über den man normalerweise Heubündel auf den Dachboden zog. Meris zerrte an den Fesseln und wand sich. Sie war darin ausgebildet und beherrschte jeden akrobatischen Trick, mit dem man sich befreien konnte. Aber die Männer verstanden ihr Handwerk, und die Stricke und Schnüre lockerten sich nicht.
Meris ließ sich hängen und pendelte langsam hin und her. Der Wind strich über ihre Haut. Es war kurz vor Morgengrauen, die kälteste Stunde des
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