Das Schwert des Sehers
Tages. Aus dem lauen Spätsommertag war eine eisige Nacht geworden. Meris versuchte, nicht mit den Zähnen zu klappern und die Münze in ihrem Mund ruhig zu halten.
»Stechen wir sie ein wenig an?« Von Lichtingen, der Edelmann mit dem glatten Gesicht, schaute zu Meris hinauf und leckte sich die Lippen. »Damit ihr Freund merkt, dass wir es ernst meinen?«
Der Ritter mit der Axt blickte zum Himmel. »Noch nicht«, entschied er. »Wir müssen die Falle schon vorbereiten, aber besser für uns wäre es, wenn er bei Tageslicht angreift. Wir sollten ihn erst unter Druck setzen, wenn die Sonne aufgeht.« Er drehte sich um und ging zum Gasthaus zurück.
Glattgesicht folgte ihm, und Meris blieb allein im Hof hängen. Allein mit den Hirten in ihren Kutten aus Wolle und in ihren Fellen, die schweigend von den Dächern zu ihr herunterstarrten.
Ringsum an den Dachkanten hingen Lampen, sodass der ganze Hof matt erleuchtet war. Die Schützen mit ihren Schleudern standen auf den Dächern. Wenn Dauras über den Hof oder über ein Dach zurückkam, um sie zu befreien, war er stets von zwei Seiten ohne Deckung. Sie hoffte, dass er fernblieb.
Und wenn doch, dann musste sie selbst dafür sorgen, dass er sich und die Prinzessin nicht in Gefahr brachte.
Sie bog den Oberkörper nach oben und führte die gefesselten Hände an den Beinen entlang. Dann schob sie die Hände von hinten zwischen den Knien hindurch und konnte mit dem Mund an ihre Fesseln gelangen. Ihre Handgelenke waren mit dünnen, aber zähen Lederriemen gebunden, die tief in die Haut schnitten. Die waren gewiss nicht leichter zu lösen als das dickere Seil um ihre Füße. Meris bog sich noch weiter, bis sie mit den Händen an ihre Fersen kam.
Da hörte sie Stimmen unter sich. Die beiden Ritter kamen zu ihr zurück. Meris seufzte und ließ sich wieder hinabgleiten.
»Na, was soll das denn?«, fragte der Axtträger spöttisch. »Es beunruhigt meinen Kameraden, wenn du so am Seil herumkletterst.«
»Macht keine Witze, Rhyl. Sie wollte abhauen.«
»Sie wird wohl kaum mit bloßen Händen ihre Fesseln abstreifen. Und selbst wenn, wie sollte sie entkommen, auf einem Hof, der von Schützen umstellt ist?« Er wandte sich Meris zu. Ihre Gesichter waren fast auf gleicher Höhe, nur umgedreht. »Oder hattest du genau darauf gehofft? Dass einer meiner Schützen dich bei einem Fluchtversuch erledigt? Damit dein Freund keinen Grund mehr hat, hier vorbeizuschauen?
Wie unerwartet heldenhaft.«
Seine verkniffenen Lippen kräuselten sich. Er tippte sie an und brachte sie leicht zum Schwingen. Dann blickte er zuden Schleuderern hinauf. »Keiner von euch erschießt sie, hört ihr? Egal, was sie tut. Ihr wartet auf den Blinden. Wenn es gar nicht anders geht und sie abhauen will, zertrümmert ihr ein Knie. Doch sie muss am Leben bleiben, bis wir ihren Freund haben.«
»Na großartig.« Ritter Glattgesicht schmollte. »Wollt Ihr sie zur Flucht ermuntern?«
»Ihr macht Euch zu viele Gedanken, Lichtingen«, sagte der Ritter mit der Axt. »Aber vielleicht habt Ihr recht. Sie hat überschüssige Kräfte, die wir ein wenig dämpfen sollten.«
Er holte mit der Axt aus und hieb eine Zacke in Meris’ Schulter. Die Wunde war nicht tief, aber der Schmerz kam sofort. Meris konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken. Doch sie hielt die Finger geschlossen, und das war das Einzige, was zählte – denn längst hatte sie ihre Münze in die Hand genommen, und die durfte sie nicht verlieren.
Sie fühlte, wie ihr das Blut über die Schulter rann.
»Warum tut Ihr das?«, fragte sie den Ritter.
»Für Geld«, erwiderte der. »Wie wir alle. Ich bekomme Geld für den Kopf der Prinzessin. Und mein Auftraggeber glaubt, dass er das Gold des Reiches behalten darf, wenn die Prinzessin nicht zurückkehrt. Nur du bist ein wenig unterbezahlt für das, was du tust, fürchte ich.«
Ein Ruf ertönte aus dem Gasthof. Etwas polterte in dem Gebäude. Ritter Rhyl Sonnenaxt fuhr herum.
»Verdammt, er ist im Haus! Ich hätte unseren Posten nicht verlassen dürfen, nur weil Ihr ein Hasenfuß seid.«
»He!«, rief Glattgesicht Lichtingen. »Vergesst nicht, wer Euer Handgeld zahlt!« Er rannte hinter seinem Gefährten her, zurück zu dem Gastgebäude. Meris wartete nicht, bis sie im Haus verschwanden. Sie musste handeln, bevor Dauras der Dummkopf auf den Hof trat!
Sie holte Schwung und schaukelte heftig an ihrem Seil. Siewollte es den Hirten auf dem Dach nicht zu leicht machen, sie zu treffen. Dann bog sie sich
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