Das Schwert des Sehers
Tisch. »Zum Glück gibt es eine andere Lösung für das Problem. Nachdem ich mich erst einmal von meinen jugendlichen Träumereien verabschiedet hatte – einen Zweikampf mit Dauras dem Seher, ha! –, da habe ich gelernt, ihn mit anderen Augen zu sehen. Nicht als einen Mann und einen Krieger, mit dem man sich messen kann. Nein, er ist eher so etwas wie ein Ungeheuer. Ein Drache. Eine dieser Bestien, wie sie aus dem Schwarzen Gebirge herabsteigen und die Lande der Menschen verheeren. Furchtbare, schreckliche Kreaturen – und doch bringt man sie am Ende zur Strecke. Niemand besiegt sie im ehrenvollen Kampf. Aber die Menschen gebrauchen ihren Kopf. Sie finden die Schwächen dieser Wesen, und auch damit kann man Ruhm gewinnen.«
Der Ritter öffnete die Faust. Ein Klumpen Blei fiel klackernd auf die Tischplatte. Er war ebenmäßig geformt und erinnerte an eine Walnuss oder an ein kleines Ei. Der Ritter sah Meris erwartungsvoll an. Die betrachtete den Bleiklumpen stirnrunzelnd.
»Dauras der Seher«, fuhr der Ritter fort. »Wie bringt man ihn wohl zur Strecke? Eine Übermacht kann ihn womöglichin die Enge treiben, denn wenn er keinen Raum mehr hat, um sich zu bewegen, nutzt ihm seine ganze Schwertkunst nichts mehr. Aber das wäre ein verzweifelter Weg, und ich würde bei einem solchen Kampf nicht in der vordersten Reihe stehen wollen.
Wie es heißt, ist Dauras auf jeden Angriff vorbereitet, ob von vorn, von hinten oder gar aus dem Hinterhalt. Er kann einen Pfeil mit dem Schwert in der Luft abfangen oder ihn mit den Händen packen, habe ich gehört. Ich frage mich nur: Wie, bitte schön, fängt er das ?«
Er versetzte dem bleiernen Ei einen Stoß, sodass es sich behäbig im Kreise drehte, bis es wippend wieder zur Ruhe kam.
Endlich erkannte Meris, was es war. »Ein Geschoss für eine Schleuder!«
Der Ritter nickte. Er legte die dazugehörige Waffe auf den Tisch, einen Lederriemen mit einer verbreiterten Auflagefläche in der Mitte, für einen Stein oder für eine Metallkugel.
»Eine sehr beliebte Waffe bei den wandernden Sippen im Norden«, erklärte er. »Und wir sind hier im Grenzgebiet. Es war nicht schwer, ein paar Hirten zu finden, die damit einem Wolf auf dreißig Schritt ein Auge ausschließen können. Wir haben sie angeheuert, und jetzt werden wir sehen, wie euer Freund mit Geschossen umgeht, die keinen langen hölzernen Schaft haben, an denen man sie leicht wahrnehmen und greifen kann.«
»Wir haben es gesehen«, erwiderte Meris trotzig. »Er ist dennoch entkommen.«
»Ja.« Der Ritter sah sie an, und sein Blick hatte fast etwas Trauriges an sich – falls es nicht nur das Zusammenspiel eines spöttischen Lächelns und der verkniffene Mundwinkel war, was diesen Anschein erweckte. »Und er ist sehr schnell entkommen. So schnell, dass er dich zurücklassen musste. Nichtganz die Beute, die wir erhofft hatten, aber immerhin ein Anfang. Ich glaube, wir haben den großen Dauras erschüttert.«
Er hob die Schultern in einer Geste gleichmütiger Zufriedenheit. Meris’ Blick fiel auf einen ihrer Dolche. Sie sprang auf. Ihre Hand schoss vor und griff nach der Waffe …
Und dann knallte die Axt mit der flachen Seite darauf. Meris schrie auf. Es fühlte sich an, als wären sämtliche Knochen in ihrer Hand zerschmettert. Der Hieb war so schnell gewesen, wie sie es sonst nur bei Dauras erlebt hatte. Sie konnte sich kaum vorstellen, was für eine Kraft nötig war, um die Axt so mühelos aus dem Holz zu reißen und sie im selben Moment wieder nach unten zu schlagen.
Trotzdem, mit der Linken griff sie nach einer anderen Klinge, die zwischen ihren Habseligkeiten lag. Der Ritter versetzte ihr eine Ohrfeige, ihr Kopf wurde herumgerissen, und sie fiel mit dem Oberkörper auf den Tisch. Meris hatte Tränen in den Augen. Ihr Blick war verschwommen. Die Krieger packten sie von hinten, zogen sie vom Tisch fort und banden ihr die Hände auf den Rücken.
Aber sie fühlte an ihrer Zunge die scharfen Kanten der Bronzemünze, die sie in dem kurzen Augenblick mit dem Mund vom Tisch geangelt hatte. Sie presste die Lippen aufeinander und gab keinen Laut von sich.
Vor dem ersten dichteren Waldstück neben der Straße saß Dauras ab. Er führte die Pferde unter die Bäume, bis sie in vollkommener Dunkelheit standen. Aruda hielt sich an ihm fest und stolperte hinter ihm her. Sie blickte sich um, aber das Gasthaus war längst außer Sicht, und bald konnte sie nicht einmal mehr die Straße erkennen.
Dann blieb Dauras
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