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Das Schwert des Sehers

Das Schwert des Sehers

Titel: Das Schwert des Sehers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Loy
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Schulter?«
    »Geht«, sagte sie. »Solange ich nicht klettern muss.«
    »Es gibt Treppen im Palast«, sagte Dauras. »Man wird weich und bequem, wenn man zu lange hier lebt.«
    Er ließ sie durch eine Seitentür auf einen Innenhof hinaus. Meris sah die Hofkapelle vor sich. Das dreieckige Kirchlein schien sich zu ducken vor der prachtvollen Fassade des inneren Palastes mit seinen Balkonen, Glasscheiben und Galerien. Es wirkte verwaist. Meris konnte sich nicht vorstellen, dass der alte Kaiser diese Kirche zu Lebzeiten jemals besucht hatte, und da es sein eigener, privater Ort für die Andacht war, war es vermutlich das einsamste Gotteshaus in der Hauptstadt überhaupt.
    Meris fand eine winzige Pforte in der hohen, fensterlosen Wand des Gebäudes, das gleich hinter der Kapelle an den Hof grenzte. Hier lagen die Räumlichkeiten des Erzkaplans, der als Seelsorger des Kaisers gleich bei der Hofkapelle wohnte.
    Ein hagerer Priester in scharlachroter Robe öffnete ihr. Das musste der Kammerdiener des toten Erzkaplans sein. Die Lippen unter der langen Nase des Mannes zitterten wie von unterdrücktem Schluchzen.
    »Bruder Iona?« Meris hielt ihm die kaiserliche Urkunde hin. »Ich bin Botin Meris. Ich soll den Tod des Kaplans untersuchen.«
    »Untersuchen?« Der Mann sah sie an aus grauen Augen, die kaum lebendig wirkten. »Es gibt wenig zu untersuchen. Aber viel zu trauern.«
    »Er hat sich das Leben genommen?«, fragte sie.
    Bruder Iona nickte. Er führte sie in das Gebäude hinein und durch einen Korridor zu einem Arbeitszimmer. Er schlurfte nicht wirklich, doch es fühlte sich so an. Meris hätte ihn am liebsten gepackt, zur Seite geschoben und wäre vorausgelaufen   … wenn sie gewusst hätte, wohin.
    »In diesem Raum ist es geschehen«, erklärte Iona. »Früher war er oft hier, aber in den letzten Jahren immer seltener.«
    Meris sah sich um. Ein Regal, so hoch wie drei Männer, nahm eine ganze Wand ein. Sie sah Folianten und Schriftrollen darin und nahm ein Buch aus einer der unteren Reihen heraus. »Die Weisheit der Heiligen«, las sie die goldgeprägten Buchstaben auf dem Einband.
    Davon abgesehen gab es in dem Raum ein kleines Tischchen mit zwei Sesseln, zwei Kommoden dem Regal gegenüber und vor dem Fenster einen gewaltigen Schreibtisch mit einem hohen Lehnstuhl dahinter. Alles war in dunklem Holz gehalten, auch die Wände waren im selben Farbton getäfelt.
    »Hier habe ich ihn gefunden.« Der Kammerdiener ging zu dem Schreibtisch. »Er saß auf seinem Stuhl und blickte hinaus. Womöglich hat er die Sonne gesucht, in seinen letzten Momenten.«
    Bponur war der Gott der Sonne, der Fruchtbarkeit und des Lebens. Meris fragte sich, warum ein Priester die Nähe seines Gottes suchen sollte, wenn er sich gerade selbst das Leben nahm. War das nicht eine Tat, durch die er den endgültigen Bruch mit seiner Gottheit vollzog?
    Andererseits, sie hatte nie viel Zeit mit dem Glauben verbracht und war gewiss nicht die Richtige, um darüber zu urteilen.
    Sie folgte dem Kammerdiener und sah aus dem Fenster. Der Erzkaplan hatte einen der höchsten Flügel des verschachtelt gebauten Palastes bewohnt. Durch das Fenster seines Arbeitszimmers blickte man weit über die Anlage hinweg bis zum Fluss und auf die Straßen der Stadt am Westufer, ganz in der Ferne.
    Auf dem Schreibtisch vor dem Stuhl lagen eine Schreibfeder und ein Tintenfass neben einem beschriebenen Bogen Papier, daneben ein goldumrandeter Glaspokal, in dem noch ein Rest Wein war, eine Karaffe und ein kleines Glasfläschchen.
    Meris hob den Pokal hoch und schnupperte daran. Sie roch den Wein und den Alkohol darin, aber beides konnte den süßlichen Geruch nicht überdecken, der aus der Neige aufstieg. Sie tauchte einen Finger hinein und leckte daran. Sofort schmeckte sie das bittere Aroma. In dem Wein war so viel Opium, dass man es niemandem heimlich unterschieben konnte.
    Sie schätzte ab, wie viel aus dem Glas wohl getrunken worden war. Die Menge hätte einen normalen Mann nicht umbringen dürfen. Das eigentliche Gift war also in dem kleinen Glasfläschchen gewesen.
    Sie nahm es und roch daran. Sie nahm nur einen Hauch von Alkohol wahr, der die Trägersubstanz der Lösung gewesen sein musste. Innen am Glas des Fläschchens haftete ein durchscheinender Rückstand. Meris wagte nicht, den Geschmack zu prüfen. Sie wollte lieber anderswo untersuchen lassen, wie wirksam das Mittel darin war.
    Sie steckte das Fläschchen ein und beugte sich über das Blatt auf dem

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