Das Schwert des Sehers
Das Leder ihrer schweren Kleidung, die fast an eine Rüstung erinnerte, knarzte leise.
Eine Hand kam aus dem Schatten, mit einem T-förmigen Holzstück strich die Geomantin den Sand glatt.
»Du kennst die Regeln meiner Kunst?«, fragte die Zauberin.
»Hm, so in etwa«, antwortete Meris. »Ich habe davon gehört.«
»Eine Frage, eine Silbermark«, erklärte die Geomantin. »Und es gibt nur eine Antwort, egal, wie die Frage formuliert wird.«
»Eine Silbermark«, sagte Meris. »Ganz schön viel für eine Antwort, von der ich gar nicht weiß, was dahintersteckt.«
»Die Geister stecken dahinter«, erwiderte die Geomantin. »Und die Antwort ist immer wahr, wenn auch nicht immer offensichtlich. Und die Silbermark tut dir nicht weh. Du wirst sie gewiss deinem Auftraggeber in Rechnung stellen.«
Meris nickte anerkennend. »Zumindest verstehst du dein Geschäft. Wie kommst du darauf, dass ich nicht für mich selbst frage?«
»Das ist nur Menschenkenntnis und Erfahrung und hat nichts mit Zauberei zu tun. Meine eigentliche Kunst hingegen, die ist echt.«
Meris holte eine Silbermünze hervor und warf sie der Geomantin im Schatten zu. »Dann zeig es mir.«
»Bevor ich eine Antwort erbitten kann, brauche ich eine Frage.«
»Ach ja.« Meris stutzte. »Muss sie mit Ja oder mit Nein zu beantworten sein?«
»Keinesfalls«, sagte die Geomantin. »Selbst wenn sie mit Ja oder mit Nein zu beantworten ist – die Geister sind selten so eindeutig.«
»Das war zu erwarten.« Meris dachte nach. Eine Frage zu stellen, einfach nur, um zu sehen, was dabei herauskam, das war die eine Sache. Sie so zu stellen, dass sie selbst nicht zu viel verriet, das war eine andere. Wer hat den Kaiser ermordet? , oder besser: Wurde der Kaiser ermordet?
Das waren Fragen, die sie gewiss nicht in irgendeiner zwielichtigen Gasse der Stadt stellen wollte.
»Meine Auftraggeberin wünscht, dass ich den Tod eines Verwandten untersuche«, setzte Meris an. Sie dachte kurz nach und fügte dann hinzu: »Ich möchte wissen, wer die Schuld trägt an diesem Todesfall, wenn überhaupt jemand Schuld daran hat.«
»Dann wartet«, sagte die Geomantin und verstummte.
Meris hockte vor der kleinen Kiste mit dem glatt gestrichenen Sand und wiegte den Oberkörper langsam vor und zurück. Sie vermeinte, die Zauberin leise summen zu hören.
Gerade überlegte sie, ob sie noch einmal nachfragen sollte, da zuckte eine Bewegung aus dem Dunkel. Metall blitzte auf im Licht der Laterne.
Meris griff nach ihrer Waffe – da sah sie, wie sieben silberne Kugeln in den Sand fielen. Der Sand spritzte auf, die Kugeln rollten ein Stück und blieben liegen. Die Geomantin beugte sich vor, und Meris erkannte, dass sie ein Kopftuch trug, das ebenso bunt war wie das Flickenkleid. Das Gesicht unter dem Tuch war von mittlerem Alter, in dem schwarzen Haar zeigten sich erste helle Strähnen – aber das mochte auch ein Spiel von Licht und Schatten sein.
Die Zauberin studierte die silbernen Kugeln und die Spuren, die sie im Sand hinterlassen hatten. » Basor «, sagte sie schließlich.
»Hm?«, fragte Meris.
»Das ist die Antwort der Geister. Basor .«
»Ich verstehe«, sagte Meris. »Die Geister antworten selten eindeutig.«
Die Geomantin lachte leise. Sie lehnte sich wieder zurück. » Basor ist ein Wort in der Sprache der Magie. Es heißt so viel wie Herr oder König oder Beherrscher .«
Meris erstarrte. Die Antwort stand in fast unheimlichem Bezug zu ihrer Frage. Der Herrscher trägt die Schuld? Hatte der Kaiser sich etwa selbst das Leben genommen, genau wie sein Erzkaplan?
»Kannst du das genauer ausführen?«
»Das ist die Antwort der Geister. Es hat eine Bedeutung, doch es ist nur ein Wort. Vielleicht hilft es dir, in die richtige Richtung zu schauen und den Rest herauszufinden.«
Meris grübelte darüber nach, dann schnaubte sie verächtlich. Sie stand auf. Es war Zeitverschwendung. Sie hätte es wissen sollen.
Wenn Magie und Prophezeiungen zu etwas taugten, würden Priester und Zauberer die Welt regieren. So, wie es einst gewesen sein sollte. Aber diese Tage waren vorbei, und sie musste sich weiterhin auf ihren Verstand verlassen.
11.11.962 – IN HOROME
D er Thronrat tagte im kleinen Saal, einem einfachen Raum mit drei hohen schmalen Fenstern an einer Schmalseite, lichtgrau verputzten Wänden und jeweils einer Tür an den Längsseiten. Es dauerte nicht lange, bis der vakante Platz der Geistlichkeit zur Sprache kam.
»Ich habe hier Vorschläge für die
Weitere Kostenlose Bücher