Das Schwert des Sehers
Schlüsseln. Da vernahm sie leise Geräusche durch das Holz. Eine Unterhaltung – hinter der Tür jenes Kerkers, in dem Arnulf von Meerbergen, der Kanzler des Reiches, seit Jahren allein gefangen saß!
Die Schlüssel in ihrer Hand klirrten. Die Stimmen verstummten.
Aruda zögerte kurz, dann klopfte sie an. »Kanzler Arnulf?«, rief sie. »Die Prinzessin … Kaiserin Aruda ist hier, um mitEuch zu sprechen. Seid Ihr bereit, Eure Herrscherin zu empfangen?«
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie wünschte sich Dauras an ihre Seite, der ihr zumindest ein Gefühl von Sicherheit vermittelte. Ein trügerisches Gefühl, denn für diplomatische Belange war er der letzte Begleiter, den man sich wünschen konnte.
Eine Stimme drang durch die Tür. »Es wäre mir eine Ehre. Wenn es der Herrin nichts ausmacht, mich hier zu besuchen. Meine Gemächer sind derzeit leider kaum bereit für die Anwesenheit einer Kaiserin.«
Aruda drehte den Schlüssel im Schloss. Von der anderen Seite hörte sie ein rasches Scharren, als würde der Kanzler die letzten Augenblicke nutzen und noch ein wenig aufräumen.
Die Tür schwang auf. Der Raum nahm fast die gesamte Breite des Turmes ein, und durch die kleinen Fenster hatte der Gefangene einen weiten Blick über die Stadt – was, wie Aruda überlegte, seine Gefangenschaft womöglich umso bitterer machte.
Der Raum war nicht klein, doch er wirkte eng, denn er war vollgestellt mit Möbeln: Es gab Truhen, Schränke, einen Sekretär, mehrere Sessel, eine gepolsterte Liege und ein Bett, Fässer, Geschirr, Papiere, Tintenfässchen und Federn, Ständer mit Gewändern … aber keine Waffen, wie man sie in der Halle eines Fürsten sonst erwartet hätte.
An dem niedrigen Tisch in der Mitte des Zimmers saß Arnulf von Meerbergen auf einem dreibeinigen Hocker, einen Tonbecher in der Hand, der zwischen seinen Fingern winzig aussah. Der Kanzler war breit, mit einem muskulösen Brustkorb. Trotz seiner Gefangenschaft war er von gepflegter Erscheinung, mit sorgsam gestutztem Vollbart und einer wallenden roten Haarpracht, die ihm in Wellen über die Schultern fiel. Er saß gebeugt und unterwürfig da und sah aus wie ein Riese, der sich in eine Puppenstube gezwängt hatte.
Aruda hätte fast aufgelacht. Die Anspannung fiel von ihr ab. Sie zog sich einen Hocker heran und nahm dem Kanzler gegenüber Platz.
»Wir müssen uns unterhalten«, sagte sie. »Darüber, wie sehr das Reich nach dem Tod meines Vaters einen Kanzler braucht, der die Erlasse des Hofes siegelt.«
Arnulf stellte seinen Becher ab.
»Es ist eine Ehre, dass Ihr dazu den Rat des armen abgesetzten Amtsinhabers sucht … in seinem einsamen Refugium.« Die Stimme des Mannes klang angenehm tief und überraschend sanft.
»Mir war, als hätte ich eben eine Unterhaltung gehört«, sagte Aruda.
Der Kanzler hob verlegen die Brauen. »Wisst Ihr«, sagte er, »wenn ein Mann lange allein in einer Kammer hockt, entwickelt er mitunter wunderliche Grillen. Es mag sogar sein, dass er mit sich selbst zu sprechen beginnt.«
»Ihr wurdet in diesen Turm verbannt«, sagte Aruda. »Aber Ihr wurdet niemals Eures Amtes enthoben.«
Der Kanzler lächelte unter seinem Bart. »Eine reine Formalität, nehme ich an. Meine Feinde waren sich einig genug, dass ich in Ungnade gefallen bin, doch auf einen Nachfolger konnten sie sich nicht verständigen. Und der Kaiser schenkte dieser Frage keine Aufmerksamkeit.«
»Mein Vater ist tot«, sagte Aruda.
»Ich habe davon gehört. Die Bürde des Amtes ist auf Euch übergegangen.«
»Und auch ich habe Feinde, denen es lieber wäre, wenn ich das Amt nicht bekleiden würde. Schlimmer noch: Ich fürchte, diese Gegner wollen überhaupt keine kaiserliche Autorität im Reich mehr über sich dulden.«
»Ich weiß«, sagte Kanzler Arnulf. »Mit diesen Kräften hatte ich stets zu kämpfen, als ich noch Verantwortung trug. Ich wünsche Euch, dass Ihr Euch besser gegen sie behaupten könnt.«
»Zu diesem Zwecke möchte ich einen Kanzler einsetzen. Einen Kanzler, der über Erfahrung verfügt. Und es wäre mir lieb, wenn dieser Kanzler nicht zu jenen Kräften gehören würde, deren Wirken ich im vergangenen Monat erleben musste – Feinde, die heimtückisch Intrigen gegen mich spinnen.«
»Es ist gut, wenn ein Monarch jemanden hat, dem er vertrauen kann. Habt Ihr bereits eine Person für dieses Amt im Auge?«
»Nun, der bisherige Amtsinhaber scheint mir hervorragend geeignet zu sein. Ihr habt die Gunst des Kaisers
Weitere Kostenlose Bücher