Das Schwert des Sehers
Schreibtisch.
I ch habe mich über mein Amt erhoben und meine Demut verloren. Anstatt auf meinen Gott zu vertrauen, wollte ich selbst die Welt heilen. Und wie viel Unglück brachte ich damit über Kaiser und Reich! Ich habe genug gesehen von den Folgen meiner Hybris, und Seinem Gericht werde ich mich stellen. Möge Bponur mir gnädig sein.
»Wo ist der Leichnam des Herrn von Ebran?«, fragte Meris den Kammerdiener.
»Ich habe ihn in seinem Schlafzimmer aufgebahrt«, sagte Iona. »Und alle Riten durchgeführt, die mir als einfachem Bruder zustehen. Ich weiß, die Kaiserin wollte den Tod meines Herrn geheim halten. Dennoch ist es an der Zeit, sich um die Bestattung zu kümmern.«
»Ihr könnt sogleich alles in die Wege leiten«, sagte Meris. »Doch zuvor möchte ich den Toten noch einmal sehen.«
»Die Leiche zeigte deutliche Spuren von Krampfanfällen. Das passt zu dem, was der Alchemist mir über den Inhalt der Ampulle erzählte: Er ist der Ansicht, dass er darin einen Auszug von Eisenhut ausmachen kann.«
Zur Mittagsstunde erstattete Meris der Kaiserin Bericht. Aruda saß an einem kleinen Tisch in einem Salon, den sie selbst sich hatte einrichten lassen, mit edlen Möbeln, bunten Wandbehängen, dicken Teppichen auf dem Boden und einem bullernden Ofen in einer Ecke des Raumes. Das Zimmer hatte einen Balkon, der auf den Hof mit der Kapelle hinausging, und eine Tür aus ungewöhnlich klarem Glas.
Sie ließ das Tageslicht fast ungetrübt herein. Doch es war recht wenig da an diesem trüben Novembertag. Die tief hängenden Wolken schienen beinahe die spitzen Dächer auf den Türmen zu berühren, und Meris war überzeugt, dass es regnen würde, bevor sie nach Hause kam.
Aruda hörte aufmerksam zu und rührte ihren Tee kaum an. Dauras lehnte an einem Wandbehang, der ein blaugoldenes Muster hatte, und kümmerte sich nicht darum, dass sein Schwertknauf in die weiche Seide drückte.
»Es sieht wirklich nach einem Selbstmord aus«, fuhr Meris fort. »Der Erzkaplan hat zuerst seine Sinne mit Opium betäubt und dann das eigentliche Gift genommen. Es war keine Substanz dabei, die ein Attentäter verwendet hätte.«
»Darüber solltest du ja Bescheid wissen«, warf Dauras ein.
»Das weiß ich in der Tat.« Meris funkelte ihn an, bis ihr bewusst wurde, dass der Schwertkämpfer ihren Blick vermutlich gar nicht wahrnahm. Sie berichtete weiter:
»Es war so viel Opium in dem Wein, dass der Kaplan ihn niemals ahnungslos getrunken hätte. Beim Eisenhut wurde nicht mal versucht, den Geschmack zu überdecken.«
»Man hätte von Ebran zwingen können, das Gift zu trinken«, wandte die Kaiserin ein.
»Möglich«, sagte Meris. »Aber dafür gibt es keine Hinweise. Sein Kammerdiener war stets in seiner Nähe, und er schwört, dass sein Herr unmittelbar vor seinem Tod keinen Besuch hatte. Auch die Leiche zeigt keine Spuren von Gewalt.«
»Und wenn der Kammerdiener lügt?«, fragte Aruda.
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Meris. »Er wirkt aufrichtig erschüttert über den Tod des Kaplans. Ihr habt mir diese Aufgabe übertragen, weil Ihr meiner Erfahrung vertraut, Majestät. Und meine Erfahrung sagt mir, dass dieser Fall genau das ist, was er zu sein scheint: ein Freitod von eigener Hand ohne Beteiligung eines Dritten.
Hinzu kommt, dass alle verwendeten Gifte für einen Priester leicht zu beschaffen sind. Es sind Mittel, die man im Hospital des Tempels findet. Der Kaplan konnte mühelos herankommen. Auch das passt ins Bild.«
»Es könnte dennoch mehr dahinterstecken.« Aruda rührte nachdenklich mit einem silbernen Löffelchen in der feinen Teetasse, sodass ein leise klirrendes Geräusch entstand. »Da ist immer noch dieser Brief.«
Meris nickte. Und wie viel Unglück brachte ich damit über den Kaiser … Selbst wenn der Kaplan von eigener Hand gestorben war, mochte es durchaus sein, dass sein Ableben mit dem Tod des Kaisers in Verbindung stand. Doch tragischerweise würde er nun nicht mehr darüber sprechen können.
»Ich werde das untersuchen«, sagte Meris. »Aber das könnte länger dauern als beim Kaplan. Im Falle Eures Vaters ist die Spur längst kalt.«
Meris dachte noch immer an ihre Unterredung mit der Kaiserin, als sie am Abend den Palast und die Insel über die Marmorbrücke verließ. Diese Brücke bestand nicht wirklich aus Marmor, sie verdankte ihren Namen den Statuen der Kaiser, die in den Nischen säulenartiger Erker am Geländer aufgereiht standen. Sie wirkte auch viel weniger prächtig als die weiter
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