Das Schwert des Sehers
Callindrin kurz darauf starb. Er hatte sich so verändert, und dann, zwei Zehnttage darauf, war er tot.«
Meris entließ den Knaben. Sie blieb in dem dunklen Gang stehen und dachte nach. Die Geschichten, die sie in den letzten Tagen gehört hatte, ähnelten sich.
Der Kaiser hatte sich kurz vor seinem Tod verändert. Aber wie hing das mit seiner Ermordung zusammen? Sie glaubte, das Gift herausgefunden zu haben, an dem er gestorben war. Das allerdings hätte ihn schon nach zwei Tagen umgebracht, nicht nach zwanzig.
Der Attentäter hätte auch keinen Vorteil davon gehabt, die Dosis zu strecken und den Tod hinauszuzögern – es wäre leichter für ihn gewesen, einmal eine Speise zu vergiften, als dasselbe immer wieder zu tun.
Und selbst wenn der Kaiser schon zehn oder zwanzig Tage vor seinem Tod das Gift bekommen hatte, zu der Zeit, da alle Zeugen ihn plötzlich verändert fanden, so hätte es nicht in dieser Weise auf seinen Geist wirken dürfen.
Außerdem, Meris konnte einfach nicht eingrenzen, wer sich zu welcher Zeit in seiner Gegenwart aufgehalten hatte. Aredrel Callindrin war beständig von mehreren hochgestellten Persönlichkeiten umgeben gewesen. Zählte man die Diener dazu, wurde es noch unübersichtlicher.
Allerdings war sie überzeugt, dass keiner der Bediensteten den Kaiser vergiftet hatte. Zumindest keiner der Köche und der Gehilfen, welche die Speisen nur zubereitet oder in die kaiserlichen Gemächer gebracht hatten. Gerade weil der Kaiser selten allein gewesen war, konnte das Gift nicht wahllos in einer Speise gewesen sein. Denn dann hätte es auch seine Gäste treffen müssen.
Wer immer als Täter in Frage kam, er musste seinem Opfer nahe gewesen sein, und zwar in einem ruhigen Moment. Er musste das Gift gezielt in einen Becher oder in einen Happen gegeben haben, unmittelbar bevor der Kaiser davon kostete.
Aber das machte den Fall eher noch undurchsichtiger. Alle hochgestellten Persönlichkeiten aus Aredrels Umfeld verdankten ihr Amt dem Kaiser. Keiner zog einen Nutzen aus seinem Tod. Warum hätte einer von ihnen seinen Gönner vergiften sollen und riskieren, dass er unter dessen Nachfolgerin seine Stellung verlor?
Als Meris aus der Seitentür eines Palastgebäudes trat, ragte unvermittelt eine Gestalt vor ihr auf. Sie zuckte zurück.
»Hallo, Meris.«
Es war Dauras! Der ehemalige Kampfmönch lehnte lässig am Türrahmen und grinste. »Du siehst angespannt aus.«
Meris verzog das Gesicht. »Was willst du, Dauras?«
Er trug eine einfache graue Kutte mit einem Ledergürtel, an dem sein schmales Schwert hing. Meris kannte die Aufmachung – sie war in Sir-en-Kreigen gewesen und hatte die Schwertmönche dort gesehen. Sie wusste, dass Dauras seit zwanzig Jahren nicht mehr in dem Kloster gewesen war, wenn er sich hier also wieder an die Kleidung seines Ordens erinnerte, dann vermutlich nur, um die Leute bei Hofe daran zu erinnern, was er war.
Sie schob ihn zur Seite. Er machte tatsächlich Platz, folgte ihr jedoch, als sie weiterging. »Die Prinzessin sorgt sich, weil du gar nicht mehr von dir hören lässt. Ich dachte mir, ich schaue mal, wie es dir so ergeht.«
»Nicht die Prinzessin«, sagte Meris. »Die Kaiserin.«
Dauras zuckte die Achseln. »Sie ist ein verängstigtes Mädchen, auch wenn ihr jemand eine Krone auf den Kopf gesetzt hat. Ich kann nicht ändern, dass ich sie so sehe.«
»Warum bleibst du dann an ihrer Seite?«, fragte Meris. »Du bist doch kein Mann, der irgendjemandem dient. Was willst du noch hier?«
»Wer weiß?«, gab Dauras zurück. »Die Herausforderung. Neugier. Nervenkitzel. Ein warmes Quartier für den Winter. Jeder hat seine Gründe für das, was er tut.«
»Wenn du im Frühjahr weiterziehst, hast du ihr mit deiner Gegenwart keinen Gefallen getan. Sie verlässt sich sehr auf dich und macht sich deinetwegen Feinde am Hof. Es wäre besser, sie würde auf den Rat ihres Kanzlers hören.«
»Du denkst zu viel an Pflichten und an die Zukunft«, sagte Dauras. »Was für ein Leben ist das, wenn du niemals etwas tust, einfach weil du selbst es so willst?«
Sie überquerten einen schmalen gepflasterten Innenhof. Der Wind blies über die hohen Mauern hinweg und trug einzelne gelbe Blätter mit sich – wer weiß, woher –, die in Spiralen zu Boden sanken und sich auf das Pflaster legten wie goldene Broschen.
Dauras folgte ihr immer noch.
»Hast du dein Kloster verlassen, um anderswo zu predigen?«, fuhr sie ihn gereizt an. »Ich brauche deine Weisheiten nicht.
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