Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition)
begraben. Nur eine Hand ragte hervor. Ihre verkrampften Finger zeigten auf uns.
Lena wachte auf, als ich mich vorbeugte, um zu beten. In dem seltsam roten Licht schien ihr Gesicht zu verschwimmen.
»Mein Gott«, sagte sie mit belegter Stimme. Der tosende Sturm riss ihr die Worte von den Lippen. »Ist das die Hölle?«
Ich betete stumm weiter.
»Ist das die Hölle?« Es war Cornelius, der die Frage wiederholte. Schnee rutschte von seinen Stiefeln, als er sich aufsetzte. »Hat uns der Teufel geholt?«
Lenas Augen glänzten feucht. Ihre Wangen waren gerötet. Sie hatte Fieber. »Warum tut uns Gott das an? Wir haben doch alles für ihn aufgegeben. Wieso schickt er uns in die Hölle?«
Cornelius fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Er bestraft uns für all die Sünden, die wir begangen haben«, sagte er. »Für die Lügen und …« Er drehte sich zu mir um. »Wir hätten beichten sollen, bevor wir den Berg bestiegen. Warum haben wir das nicht getan?«
Ich sah auf, als mir klar wurde, dass er recht hatte. »Wir haben nicht daran gedacht.«
»Und jetzt ist es zu spät.« Lena hielt den Kopf gesenkt, als könnte sie den Anblick des Himmels nicht ertragen. »Nicolaus hätte uns die Beichte abnehmen und den Kreuzzug reinigen sollen.«
Cornelius ging auf die Knie. Schnee knirschte unter ihm. »Lass es uns jetzt tun. Es ist noch nicht zu spät. Nimm mir die Beichte ab.«
Meine Augen weiteten sich, als ich begriff, dass er mich meinte. »Das geht nicht. Ich bin kein Priester.«
»Das ist Nicolaus auch nicht. Bitte tu es, Madlen.« Seine blau gefrorenen Lippen zitterten. Trotzdem legte er seinen Umhang ab und breitete ihn vor sich aus, damit ich darauf knien konnte. »Bitte.«
»Wir nehmen sie uns gegenseitig ab«, sagte Lena und nieste. »Das ist immer noch besser, als voller Sünde in den Tod zu gehen.« Sie klang gefasst, so als hätte sie für sich beschlossen, dass es keinen Ausweg mehr gab.
Donner rollte über den Berghang. Irgendwo schrie ein Kind, laut und anhaltend, als würde man es in siedendes Wasser tauchen. Der Laut fraß sich in meinen Kopf, hallte weiter, als der Schrei längst erstorben war.
»Bitte«, sagte Lena in das Heulen des Sturms hinein.
Ich kniete auf dem Stoff nieder. Der Wind bauschte ihn auf. Cornelius faltete die Hände. »Vergib mir, Va…« Er zögerte und begann von vorn. »Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt.«
»Was hast du getan?«, fragte ich, als er nicht fortfuhr. Meine Finger waren so steif, dass ich die Hände kaum falten konnte.
»Ich habe …« Er zögerte erneut. »Ich …« Er ließ die Hände sinken und sah mich an. Tränen standen in seinen Augen. »Es ist alles gelogen. Mein Vater ist gar kein Kaufmann. Wir haben auch keine Dienstboten. Er ist Henker.« Die Worte sprudelten aus ihm hervor wie Wasser aus einer Quelle. »Meine Mutter sagt, niemand darf das wissen, aber ich glaube, dass es alle wissen. Sie starren mich so komisch an, wenn wir in unserer feinen Kleidung zur Kirche gehen. Kleidung, die wir von den Toten haben. Alles, was wir besitzen, ist von den Toten!«
Er schrie mir den letzten Satz über das Tosen des Winds entgegen, dann sackten seine Schultern herab. Zitternd sank er in sich zusammen.
»Ich schäme mich so.«
Lena sah ihn an wie einen Fremden. Ekel schlich sich in ihr Gesicht. Ich wollte Cornelius in die Arme nehmen, aber er wich zurück, als ich sie ausstreckte.
»Gott vergibt dir«, sagte ich. »Du musst dich nicht mehr schämen.«
Er sah nicht auf. Hinter ihm zuckte ein Blitz über den Himmel, verästelte sich dutzendfach und erlosch. Zwei Lidschläge später donnerte es. Das Gewitter zog weiter.
»Jetzt du«, sagte Cornelius leise, als der Donner verhallte. Mit dem Handrücken wischte er sich die Tränen aus den Augen. »Beichte.«
»Vergib mir, Vater.« Ich hörte mich die Worte sagen, aber es war, als lauschte ich einer anderen, als säße ich weit weg und würde mich selbst beobachten. »Ich habe einen Mann getötet.«
Es klang flach und gleichgültig.
»Was?« Lenas Augen weiteten sich. »Was hast du getan?«
Ich wollte nichts erklären, wollte nicht wieder an das Gesicht im Dreck denken, an den Stein in meiner Hand, an die Gasse, in der es geschehen war. »Ich habe einen Mann getötet, das ist alles.«
Cornelius hob den Kopf. Als ich seinen Blick sah, wusste ich, dass er es verstand.
»Gott vergibt dir«, sagte er.
Ich wartete auf die Erleichterung, dass eine Last von meinen Schultern genommen wurde, und auf die
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