Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition)
er den Verstand verloren. »Bist du sicher, dass er das gesagt hat?«
»Ja. Lukas hat uns seinen Befehl weitergegeben. Wir haben fast nichts mehr zu essen. Wenn wir hierbleiben …« Er brach ab.
»Fast?«, fragte Lena. »Ich dachte, es gäbe gar nichts mehr.« Sie beugte sich vor, Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht. Sie strich sie wütend beiseite. »Soll das etwa heißen, dass ihr Brüder …«, sie betonte das Wort wie eine Beleidigung, »… noch etwas habt?«
Cornelius wich zurück. Regen lief ihm in die Augen. »Ich tue doch nur, was Lukas sagt. Und ich habe auch nichts zu essen bekommen.«
Ich trat Lena gegen den Fuß und schüttelte den Kopf, als sie mich ansah. Sie kniff die Lippen zusammen, nickte aber nach einem Moment. Dann winkte sie Cornelius zu. »Komm wieder her. Ich bin dir nicht böse. Wenn es ums Essen geht, vergesse ich nur, was ich gelernt habe.«
Ihr Blick traf den meinen. Wir wussten beide, was sie damit meinte.
Cornelius zögerte, doch der nächste Blitz trieb ihn wieder unter den Vorsprung.
»Setz dich erst mal«, sagte Lena. »Und dann erklär uns genau, was Nicolaus befohlen hat.«
»Nichts«, antwortete ich an Cornelius’ Stelle. »Nicolaus kümmern die Vorräte nicht. Er denkt, dass Gott für uns sorgen wird, wenn alles aufgebraucht ist. Dies sind Lukas’ Befehle, nicht seine.«
Es war nicht sehr klug, das auszusprechen. Cornelius würde es Lukas berichten, wenn er sich einen Vorteil davon versprach. Doch das war mir egal. Lukas sollte ruhig erfahren, dass ihm nicht jeder im Kreuzzug glaubte.
»Ich weiß nur, was mir und den anderen befohlen wurde.« Cornelius sah unsicher in den Sturm hinaus. Der Wind zerrte an seinen nassen Haaren. »Wir sollen alle zusammenrufen, damit es weitergeht. Er besteht darauf.« Einige Schatten tauchten zwischen den Felsen auf, kämpften sich durch das Unwetter. »Da, seht doch. Sie gehorchen. Warum könnt ihr das nicht?« Er klang weinerlich.
Ein Blitz zuckte über den Himmel, tauchte die Landschaft in ein grelles weißes Licht. Ein zweiter folgte. Es knallte scharf, Funken sprühten.
Ich sah, wie ein Junge durch die Luft geschleudert wurde. Mit brennenden Haaren und dampfender Kleidung schlug er vor unserem Unterschlupf auf. Sein Gesicht war verkohlt.
Eine junge Frau begann zu kreischen. Sie lief an uns vorbei, zog Flammen wie einen Umhang hinter sich her. Nach nur wenigen Schritten brach sie zusammen. Der Geruch von gebratenem Fleisch hing plötzlich in der Luft.
Mein Magen begann zu knurren. Entsetzt schlug ich mit der Hand darauf.
Cornelius wich mit einem Aufschrei zurück, stolperte und fiel neben mir in den Schlamm.
Ich nahm ihn in den Arm, hielt ihn fest, während er weinte. Lena rückte näher an mich heran, bis ich meinen freien Arm um ihre Schultern legen konnte. Aneinandergepresst blieben wir sitzen.
»Ich will nicht gehorchen«, flüsterte sie. »Ich will nicht.«
»Dann werden wir es auch nicht.« Ich schloss die Augen. Die Blitze hatten sich weiß in meine Lider gebrannt. Die verkohlte Leiche des Jungen lag nur wenige Schritte von mir entfernt, aber der Sturm trug den Geruch weg von uns. Mir wurde übel, als ich an mein Magenknurren dachte.
Schweigend starrten wir in den Sturm. Selbst Cornelius sagte nichts. Um uns herum wurde es dunkel. Zuerst dachte ich, es wäre das Unwetter, doch dann wurde mir klar, dass es die Nacht war, die über uns hereinbrach.
Es wurde kalt. Schneeflocken mischten sich in den Regen, anfangs nur vereinzelt, dann immer mehr, bis schwere nasse Flocken in unseren Unterschlupf wehten. Cornelius zog die Beine bis unters Kinn. Seine spitzen Knie drückten gegen meine Hüfte. Er zitterte.
Neben mir stöhnte Lena leise. »Der Schnee bleibt liegen. Haben wir denn noch nicht genug gelitten?«
Ich schwieg und lauschte dem Heulen des Sturms. Meine Lider wurden schwer.
Hunger und Kälte rissen mich aus dem Schlaf. Mein Magen brannte, meine Hände waren steif. Ich hatte geträumt, nicht von Konrad oder Hugo, nicht einmal von Diego, sondern von Heinrich. Er hatte in der Tür unserer Hütte gestanden, während ich im Hof saß und ein Huhn rupfte. Ich spürte immer noch die Wärme der Sonnenstrahlen auf meinem Rücken.
Der Schneesturm tobte immer noch. Über uns hing ein blutroter wirbelnder Himmel. Blitze zuckten, schlugen krachend in Fels ein. Schnee lag kniehoch an den windgeschützten Stellen zwischen den Felsen. Cornelius’ Stiefelspitzen waren weiß, und der tote Junge war unter einer weißen Schicht
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